München zeigt sich gegenüber den Flüchtlingen hilfsbereit
Fast 3000 Flüchtlinge spuckten die Züge am Münchner Hauptbahnhof in knapp 24 Stunden aus. Und wie reagieren die Münchner? Mit erstaunlichen Gesten.
Nadia Hassan sitzt im Schneidersitz an einem Bauzaun. „I am happy“ – ich bin glücklich, sagt sie. Mit ihrem Mann und den drei Kindern ist die Syrerin aus Aleppo mit dem Zug am Münchner Hauptbahnhof angekommen. Sie lacht, obwohl sie dringend eine Dusche bräuchte, erzählt sie. Und Schlaf. „Wir sind sehr müde. Wir sind gelaufen, haben gecampt, Bus, Zug.“ Ihre Tochter schmiegt sich an sie.
Um sie herum: Polizeibusse, hunderte weitere Flüchtlinge, Kinder, die mit Seifenblasen und Luftballons spielen. Männer unterhalten sich, Frauen stillen ihre Babys. Alltagsszenen trotz Ausnahmezustands. Momente, wie es sie in Bayern noch nicht gegeben hat.
Am Morgen hat die Polizei die nahe Arnulfstraße gesperrt. Der Vorplatz des Hauptbahnhofs, auf dem sich sonst Taxis aneinanderreihen, ist mit Dixiklos, einem Bus für die medizinische Erstuntersuchung und Polizeibussen vollgestopft. Bauzäune und Absperrbänder markieren Wege. Andere Busse stehen für die Flüchtlinge parat. Deutschland wird seit Monaten von Asylbewerbern überrannt. Aber so einen Ansturm in nur 24 Stunden hat man noch nicht gesehen.
Der Grund für den Flüchtlings-Ansturm liegt in Ungarn
Es ist Montag, als das Drama seinen Ausgang nimmt. Ungarn lässt mehrere tausend Flüchtlinge per Bahn unkontrolliert ausreisen. In Wien kommen über 3600 Menschen an. Fast alle reisen weiter nach Deutschland. Noch am selben Abend erreicht der erste Zug gegen 19 Uhr München. Der zweite kommt eine Stunde später an und noch einer nach 23 Uhr.
Auf einen Schlag betreten hunderte Flüchtlinge bayerischen Boden. Bis Dienstagabend sind es nach Angaben der Bundespolizei fast 3000. Sie kommen hauptsächlich aus Syrien, Afghanistan und Pakistan, angeblich aber auch etwa 40 Prozent vom Balkan, also aus Ländern, die als sicher gelten. „Wir haben ein Plakat hochgehalten, auf dem ,Willkommen‘ stand. Alle Flüchtlinge haben applaudiert“, erzählt Mario Tille. „Ein Lohn kann nicht besser sein.“
Freiwillige zeigen in München große Hilfsbereitschaft
Tille ist einer der freiwilligen Helfer, die seit Montagabend hier schuften. Über Facebook und verschiedene Radiosender haben sie Aufrufe gestartet und nun neben der Schalterhalle ihren Stand aufgebaut. Laufend gehen neue Spenden ein: Windeln, Shampoo, Äpfel, Bananen, Pfirsiche. Ein Polizeisprecher nennt die Hilfsbereitschaft „überwältigend“.
Ein Dönerladen hat vegane Döner organisiert, Oberbürgermeister Dieter Reiter Wassertanks, die Bundespolizei unterstützt mit Kaffee. Franziska Karnoll sagt: „Es funktioniert.“ Auch die junge Frau mit Dreadlocks arbeitet schon die ganze Nacht durch, keuchend wuchtet sie Kisten mit Obst und Wasserflaschen herum. Am Nachmittag bittet die Polizei die Bevölkerung über den Kurznachrichtendienst Twitter, keine Sachspenden mehr zum Hauptbahnhof zu bringen, weil es schon so viel davon gibt.
Ohne Registrierung vom Bahnhof ins Erstaufnahmelager
Anfangs haben es die Beamten noch geschafft, die Flüchtlinge gleich am Bahnsteig zu registrieren. Nun, Stunden später, wo die Masse kaum noch zu überblicken ist, verzichtet man erst mal darauf; später soll das nachgeholt werden. „Ziel ist derzeit, die Zeit am Hauptbahnhof möglichst kurz zu halten“, sagt Thomas Baumann, Sprecher des Polizeipräsidiums. „Der humanitäre Aspekt steht im Vordergrund.“
Die Flüchtlinge werden mit Bussen in Erstaufnahmelager gebracht. Baumann sagt, das werde den ganzen Tag so weitergehen. „Der Weg aus Ungarn ist weit.“ Mittlerweile, erzählt er, kommen die Flüchtlinge nicht nur in Schnellzügen, sondern auch mit der Regionalbahn an. Es ist heiß, hier stehen Massen an Menschen. Aber sie sind in Deutschland.
Bis zum frühen Abend waren am Dienstag etwa 2100 Flüchtlinge angekommen. Sie wurden registriert und mit Bussen in Erstaufnahmeeinrichtungen gebracht. Die Züge aus Ungarn lösten in der bayerischen Landeshauptstadt eine Welle der Hilfsbereitschaft aus. Hunderte Spender brachten Lebensmittel, Kleidung, Zahnbürsten, Windeln und andere Geschenke für die Asylbewerber zum Hauptbahnhof.
In der Nacht auf Mittwoch sind keine weiteren Flüchtlinge in München angekommen. Der letzte Zug sei gegen 1 Uhr eingetroffen, sagte ein Sprecher der Bundespolizei. Unter den Passagieren seien keine Flüchtlinge gewesen.
Weg aus Ungarn, auf nach Deutschland
700 Bahnkilometer entfernt ist es nicht viel kühler. Dort vor dem Ostbahnhof in Budapest stehen sich auch die Massen die Beine in den Bauch. Man muss nur ihren Sprechchören zuhören, um zu kapieren, worum es hier geht. „Germany, Germany“, rufen sie, „Wir wollen weg!“ und: „Merkel! Merkel!“ Sie wollen dorthin, wo viele ihrer Landsleute schon sind.
Aber das geht nicht mehr so einfach – obwohl zur gleichen Zeit Bayerns Innenminister Joachim Herrmann via Fernsehen zusichert, die Flüchtlinge nicht nach Ungarn zurückzuschicken. Das Problem liegt an Ungarn. Die Polizei sperrt am Morgen den Bahnhof für Flüchtlinge. Entsprechend groß ist deren Befürchtung, gar nicht mehr von dort wegzukommen oder sich auf gefährliche Fahrten mit Schleppern einlassen zu müssen.
Seit neun Wochen ist der Ostbahnhof Durchgangs- und Sammelstelle für Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und Afrika. Nach Angaben der Flüchtlingsorganisation Migration Aid sind es mittlerweile um die 2000 Leute, die hier auf ihre Angehörigen warten oder auf einen Platz im nächsten Zug hoffen. Sie schlafen auf dem Steinboden in der Unterführung, wer Glück hat auf einer Matratze oder im Zelt.
Geschätzte 1500 Flüchtlinge schaffen es Tag für Tag über die serbische Grenze nach Ungarn. Wer nicht mit Schleppern Richtung Österreich und Deutschland gestartet ist, steuert den Ostbahnhof in Budapest an. Ab hier fahren Züge nach Wien, München und Berlin. Die Einwanderungsbehörde teilt mit, bis zum 24. August hätten mehr als 130.000 Menschen einen Asylantrag in Ungarn gestellt. Doch das Credo für die Flüchtlinge lautet: so schnell wie möglich weiter.
Ungarn stellt um seine Grenzen eine Draht-Zaun auf
Auch Murfa, 63, aus dem syrischen Damaskus ist vor sechs Tagen mit seiner Familie in der Stadt angekommen. Der Schneider im weißen Hemd, adrett mit Bügelfalten an den Ärmeln, ist mit seiner Ehefrau, Tochter Dschaina und deren beiden Kindern unterwegs. Der Ehemann der 36-jährigen Dschaina hat es bereits nach Wien geschafft, nun soll der Rest der Familie nachkommen. Ziel ist Deutschland.
Ein Loch im Grenzzaun zu Serbien war das Glück der Syrer. Ungarns rechtskonservative Regierung unter Premier Viktor Orbán hat den Zaun aus Nato-Draht entlang der Grenze zu Serbien auf 175 Kilometern Länge aufgestellt; erst am Wochenende wurde der erste Abschnitt fertiggestellt. Die Zugtickets von Murfas Familie nach Wien sind noch bis morgen gültig.
Wann internationale Züge den Ostbahnhof wieder anfahren, ist ungewiss. Diese Woche will Premier Orbán in Brüssel verhandeln. Gut möglich, dass noch einmal Tausende nach Bayern durchgelassen werden. Und damit auch Murfa und seine Familie irgendwann in München landen.
„Die Deutschen sind sehr freundlich“
So wie ihre Landsleute, die dort gestern im Schatten des Hauptbahnhofs ausharren. Sie sehen erschöpft aus, reagieren aber freundlich, als gleich dutzende Reporter auf sie zustürzen. „English?“ Es folgt ein Lächeln, ein „Yes“ oder ein Fingerzeig auf einen, der Englisch beherrscht.
Muhammad, Kamel, Ahmed, Abdulsalam, Rahid und ihr Mann Ayoub kommen aus dem Norden Syriens. „We are very happy“, sagt Muhammad. „Wir wollen nach Frankfurt, da haben wir Freunde.“ Warum seid ihr hier? „To live in peace – um in Frieden zu leben“, sagt Ahmed. Die Deutschen seien sehr freundlich, erzählt der erst 14-jährige Abdulsalam in sehr gutem Englisch, während Muhammad unbedingt noch ein Selfie mit der blonden Reporterin schießen will.
Und noch immer bahnen sich Helfer mit Kisten voller Obst einen Weg durch die Flüchtlinge. Schon am Montagabend haben Passanten spontan Wasser und Essen für sie gekauft. Benedict von Canal hat jetzt ein Tablett voll mit Butterbrezen dabei. Er trägt Anzug und Krawatte. „Ich komme gerade aus dem Büro“, sagt der Angestellte einer großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. „Die Brezen sind übrig geblieben. Ist doch klar, dass wir da helfen.“
Tania Mayer ist auf dem Weg in die Arbeit. „Aber ich hab’ gedacht, das kann jetzt warten“, sagt sie. Wichtig seien „ein freundliches Wort, ein Lächeln – eben das, was man selber wollen würde, wenn man in ein fremdes Land kommt“.
Der kleine Ahmed wiederum läuft mit einem Teddybär – auch der ist eine Spende – unter dem Arm herum und schnappt sich eine Packung Tampons. „Die ist für Frauen“, sagt eine Helferin und nimmt sie ihm wieder weg. Ahmed lacht.
Es gibt auch andere Szenen am Hauptbahnhof. Eine Handvoll Neonazis hat sich am Montag breitbeinig und mit verschränkten Armen ans Gleis gestellt und so Flüchtlinge empfangen. Ein Passant grummelt Schimpfwörter vor sich hin und macht eine abweisende Geste. Nadia Hassan, die Frau aus Aleppo, lässt sich davon nicht beeindrucken. Sie sagt: „Deutschland ist ein sehr gutes Land. Thank you.“ (n-ost)
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