Terrorexperte Neumann zu Straßburg: "Der IS sieht sich als eine Art Gang"
Nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Straßburg erklärt der deutsche Terrorexperte Peter Neumann, warum so viele Attentäter Kleinkriminelle sind.
Herr Neumann, der IS hat die Tat des Attentäters von Straßburg, Chérif Chekatt, für sich beansprucht. Halten Sie es für wahrscheinlich, dass das stimmt?
Peter Neumann: Ja, natürlich. Aber man muss dieses Für-sich-Beanspruchen im Falle des IS etwas weiter fassen. Der IS hat seinen Anhängern gesagt: Ihr dürft unsere Marke benutzen, auch wenn Ihr Euch nicht direkt uns angeschlossen habt. Wenn ihm dann die Anschläge gefallen, nimmt der IS diese für sich in Anspruch.
Und der Straßburger Anschlag gefällt dem IS, obwohl es „nur“ vier Tote gab?
Neumann: Ja, der IS ist nicht mehr so erfolgsverwöhnt wie er das mal war. Alles, was in Europa passiert, ist etwas, das ihm ins Konzept passt, weil es die Botschaft vermittelt: Es gibt uns noch.
Aber das bedeutet nicht, dass Chekatt vom IS angeworben wurde?
Neumann: Nicht unbedingt. Wir wissen noch nicht genug über ihn, aber wahrscheinlich ist er – auch durch seine Gefängnisaufenthalte – über Umwege in dschihadistische Netzwerke hineingeraten. Ich denke, der Kontakt ist eher über ein, zwei Ecken gelaufen. Aber das reicht für den IS. Jeder Anschlag, den er für sich in Anspruch nehmen kann, passt ihm deshalb ins Konzept.
Es stellt sich die Frage, ob der Attentäter in Haft radikalisiert wurde. Er hat jedenfalls viel Zeit in Gefängnissen verbracht. Was macht die Häftlinge so anfällig für Radikalisierung?
Neumann: Da kommt da einiges zusammen: Ins Gefängnis zu kommen, ist eine sehr intensive Erfahrung. Man evaluiert das gesamte Leben, man stellt sich oft existenzielle Fragen – und ist dann eben offen für neue Ideen und einen völlig neuen Lebensentwurf. Deswegen gab es vor der ganzen Terrorismus-Geschichte schon evangelikale Gruppen, die im Gefängnis aktiv waren. Das ist das eine. Das Zweite ist, dass die Häftlinge abgeschnitten sind, von ihren sozialen Kontakten. Das heißt, sie müssen sich über Nacht ein völlig neues Beziehungsgeflecht aufbauen und die alten Kontakte, die sie vielleicht von einer Radikalisierung abhalten würden, sind abgeschnitten. Der dritte Punkt ist: Im Gefängnis sitzen vielfach junge Männer, die Probleme mit der Staatsgewalt haben. Wenn Sie alle drei Faktoren zusammenzählen, dann haben Sie im Prinzip die ideale Zielgruppe für Extremisten.
Wie funktioniert die Radikalisierung?
Neumann: Die Dschihadisten sehen es als ihre Aufgabe an, im Gefängnis Leute zu rekrutieren. Wenn Sie das Pech haben, dass es keinen Gefängnis-Imam gibt, der die spirituellen Fragen beantworten kann, ist es häufig so, dass sich der Extremist als der Anführer aufspielt, der das Freitagsgebet leitet und praktisch zur Vaterfigur wird. Das sieht man in Gefängnissen in ganz Europa.
Wie gut sind deutsche Haftanstalten auf diese Gefahr vorbereitet?
Neumann: Das Thema wird in Deutschland diskutiert, aber wieviele Imame es gibt, variiert von Bundesland zu Bundesland. Im Prinzip sind drei Dinge wichtig: Erstens, dass Gefängnisse nicht chaotisch sind. In fast allen Fällen, in denen Radikalisierung im Gefängnis stattfand, hatte die Gefängnisleitung die Kontrolle verloren. Zum Beispiel die Charly-Hebdo-Attentäter haben sich alle im Gefängnis kennengelernt. In den meisten deutschen Gefängnissen herrschen allerdings ordentliche Zustände. Das Zweite ist, dass man den Gefängniswärtern beibringen muss, was Frühzeichen von Radikalisierung sind. Die dritte Maßnahme ist, dass moderate Gefängnisseelsorger auch für muslimische Gefangene zur Verfügung stehen. Dass eben jeden Freitag ein moderater Imam die Gebete leitet und für spirituelle Fragen da ist. Das ist in Deutschland noch nicht flächendeckend der Fall. Wie sich herausgestellt hat, wussten deutsche Behörden nichts davon, dass es sich um einen Gefährder handelt.
Wie gut ist die Terrorismus-Bekämpfung in Europa aufgestellt?
Neumann: Vor 2015 war das ja ganz katastrophal. Nach den Anschlägen in Paris 2015 haben die Franzosen Druck gemacht, weil diese Anschläge ja in Brüssel vorbereitet worden waren. Danach wurden bei Europpol Datenbanken aufgemacht. Allerdings ist das Füttern diese Datenbanken freiwillig und auch abgerufen werden die Daten nicht von allen Staaten routinemäßig. Dieser Fall jetzt illustriert wieder schulbuchhaft, was das Problem ist: Da ist einer als Gefährder geführt in Frankreich. Er wird in Deutschland festgenommen, weil er sich hier – dank Schengen – auch völlig frei bewegen kann. Aber die deutschen Behörden haben keine Ahnung von dieser wichtigen Information. Das müsste eigentlich routinemäßig ausgetauscht werden. Dass das immer noch nicht funktioniert, ist ein großes Versagen der europäischen Politik. Wobei fraglich ist, ob damit der Anschlag zu verhindern gewesen wäre.
Ist es überhaupt möglich, Gefährder unter Kontrolle zu behalten?
Neumann: Das ist die große Frage. Es kommt natürlich darauf an, wie man Gefährder definiert. Die Franzosen haben eine sehr liberale Definition, die führen 10.000 Leute in dieser Datenbank. Die kann man dann natürlich nicht alle überwachen. In Deutschland sind es aktuell 700 – von diesen sind etwa 300 nicht in Syrien und nicht im Gefängnis. Das sind auch noch zu viele, um sie 24 Stunden am Tag zu überwachen, auch da muss man noch Prioritäten setzen. Eine Lösung wäre meines Erachtens, dass man Gefährder unter bestimmten Bedingungen festsetzt, obwohl sie noch nichts gemacht haben. Beispielsweise Anis Amri: Der hat mehrfach den Versuch unternommen, sich Waffen zu beschaffen. Er hat mehrfach seine Absicht zum Ausdruck gebracht, dass er einen Anschlag unternehmen will. Das zusammengenommen hätte für mich die Basis dafür gegeben, dass man ihn wegen Vorbereitung einer terroristischen Straftat anklagt. Aber ich bin natürlich kein Jurist.
Es fällt auf, dass Täter wie Chekatt eine Karriere als Kriminelle hinter sich haben. Inwiefern hängen Radikalisierung und Kriminalität zusammen?
Neumann: Das ist ein Phänomen, das wir in Europa in jüngerer Zeit häufig sehen. In Frankreich ist die Hälfte aller terroristisch Auffälligen wegen Kleinkriminalität vorbestraft. In Holland und in Deutschland sind zwei Drittel polizeibekannt. Das hängt damit zusammen, dass der IS angefangen hat, sich als eine Art Gang darzustellen und die Anforderungen an die Rekruten so weit zu senken, dass selbst Leute, die quasi aus dem Ghetto kamen, Zugang hatten. Besonders deutlich wird das im Vergleich mit den Attentätern vom 11. September 2001: Das waren Studenten aus der Mittelklasse, die sich viermal die Woche getroffen haben, um über Religion zu diskutieren. Das ist eine ganz andere Art von Rekrut als diejenigen, die wir heute bei Isis sehen. Wenn du bei Al Kaida Mitglied wurdest, musstest du fromm sein, fünfmal am Tag beten. Das war unvorstellbar, dass da einer weiter Drogen konsumiert wie Anis Amri. Ein französischer Dschihadist hat einmal erklärt: "Ich bin nicht zum Islam konvertiert, ich bin zum Dschihad konvertiert." Dieser Umweg über den Islam hat der IS abgeschafft.
Peter Neumann ist einer der bekanntesten Islamismus-Experten. Der Deutsche lehrt am Londoner King’s College.
Die Diskussion ist geschlossen.
Wie wir mit Gefährdern künftig umgehen: darüber sollte man ernsthaft neu nachdenken.
Dass aber die Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden in Europa noch immer nicht effizient genug erscheint, darüber kann man sich nur wundern!