Warum in Deutschland zu viel operiert wird - Fall eines 45-Jährigen
Chirurgen warnen davor, dass Patienten durch unnötige Operationen Opfer wirtschaftlicher Interessen werden. Der Fall eines 45-Jährigen steht stellvertretend für viele Schicksale.
Eigentlich hat sich Michael Meyer bloß sein Knie beim Schwimmen verdreht. Es schmerzte, er ging zum Orthopäden. Welcher Leidensweg für ihn damit begann, konnte er damals nicht ahnen. Nach einer misslungenen und, wie er später herausfand, überflüssigen Operation in einer chirurgischen Praxis begann für den 45-Jährigen eine Tortur: Eineinhalb Jahre ging er auf Krücken. Seinen Beruf kann er seither nicht ausüben. Vor der Operation hatte er weniger Schmerzen als danach. Weil er sich in einem Rechtsstreit mit dem ehemaligen Arzt befindet, möchte Meyer seinen richtigen Namen nicht veröffentlichen. Sein Fall ist kein Einzelbeispiel.
Unnötige Operationen werden jedes Jahr durchgeführt
Jedes Jahr werden unnötige Operationen durchgeführt. Diese Erfahrung hat Professor Hans Pässler gemacht. Von Kollegen aus anderen Fachbereichen hörte der erfahrene Kniespezialist, der bis 2010 Ärztlicher Direktor einer Heidelberger Klinik war, immer wieder schauerliche Geschichten. Besonders betroffen seien die Orthopädie, die Gynäkologie, aber auch die Kardiologie und Urologie. Zu viele Prostata-Operationen, Gebärmutterentfernungen, unnötige Herzkatheter oder Rückenoperationen – gegen diesen Trend stellt sich Pässler seit zwei Jahren mit dem Internet-Portal „vorsicht-operation.de“, das sich direkt an die Patienten richtet. Betroffene können dort eine Zweitmeinung zu einer Operation einholen.
Patient Meyer hat sich inzwischen an die daraus hervorgegangene Firma Medexo gewandt, eine Abkürzung für „medizinische Experten online“. Pässler empfahl Meyer eine Therapie ohne weitere Operation. Sie half. „Mein Knie wird aber nie mehr so, wie es war.“
Kostendruck als Grund für unnötige Operationen
Der Grund für unnötige Operationen ist häufig Kostendruck. Mit der Firma Medexo bietet Dr. Jan-Christoph Loh seit einem Jahr Zweitmeinungen von Fachärzten gegen Bezahlung an. Der Geschäftsführer, der wie Operationskritiker Pässler selbst Mediziner ist, sagt: Schon als Assistenzarzt werde man mit dem Kostenfaktor konfrontiert. „Die Parolen ,Aufnehmen, was geht‘ oder ,Fälle gleich Stelle‘ hört man leider immer wieder.“ Mittlerweile praktiziert Loh nicht mehr. „Bisher haben wir 300 Fälle bei Medexo betreut“, sagt der Arzt mit Chirurgen-Ausbildung. „Wir wollen eine verbesserte Qualitätssicherung in der Medizin erhalten.“ Inzwischen übernehmen erste Krankenkassen die Kosten für den Beratungsservice, wenn Patienten unsicher sind, ob eine teure Operation nötig ist.
Bei Michael Meyer war sie unnötig. Sein Fall sei ein gutes Beispiel für eine kostengetriebene Behandlung, meint Mediziner Loh. Der Arzt, bei dem Meyer damals in Behandlung war, meinte: „Da muss schnell operiert werden, sonst machen Sie sich das ganze Bein kaputt.“ Die OP-Aufklärung beschreibt Meyer im Nachhinein als Panikmache.
Es sind zwei gegensätzliche Prinzipien, mit denen das Gesundheitswesen in Deutschland kämpft: Wirtschaftlichkeit steht der optimalen Patientenversorgung gegenüber. Eine Klinik oder eine Praxis muss schließlich Geld verdienen, um rentabel zu sein. Die Hälfte der deutschen Krankenhäuser hat im Jahr 2012 aber rote Zahlen geschrieben.
Klinikum Augsburg fährt seit 2011 Gewinne ein
Das Klinikum Augsburg fährt seit 2011 Gewinne ein. Klinikumschef Alexander Schmidtke betont jedoch: „Der Kostendruck ist sehr hoch.“ Um mehr Geld zu erwirtschaften, habe die Klinik etwa die Preise bei Apothekengütern und im medizinischen Sachbedarf nach unten verhandelt. Dass Operationen aus finanziellen Gründen stattfinden, schließt Schmidtke für das Augsburger Zentralklinikum aus. „An einigen Kliniken ist das Gehalt des Arztes an die Anzahl der Operationen geknüpft“, erklärt er. „Dieses falsche Anreizsystem haben wir abgeschafft.“
Nicht immer sind wirtschaftliche Überlegungen der Grund, dass Patienten schlecht behandelt werden. Medexo-Chef Loh sagt, die Liegezeiten seien früher oft zu lang gewesen, weil das Krankenhaus dann mehr Geld kassierte. Seit der Einführung sogenannter „Fallpauschalen“ achten Ärzte aber darauf, ihre Patienten so bald wie möglich zu entlassen oder in Rehakliniken zu schicken. Je mehr Patienten eine Klinik betreut, umso mehr Geld kann sie abrechnen. Der Spitzenverband der Krankenkassen klagt über steigende Fallzahlen an den Kliniken. Der Zuwachs sei nur bedingt mit dem Älterwerden der Bevölkerung verknüpft, sagen die Kassen.
Am Klinikum Augsburg steigen die Patientenzahlen
Auch am Augsburger Klinikum stiegen die Patientenzahlen in den vergangenen Jahren. Chef Schmidtke erklärt sich den Zuwachs unter anderem durch den medizintechnischen Fortschritt. Operationskritiker Pässler fordert dagegen, dass Kliniken nicht nach Menge, sondern nach Qualität bezahlt werden sollten.
Doch Qualität ist häufig schwer messbar. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft ist der Ansicht: „Eine Verknüpfung von Vergütung und Qualität ist der falsche Weg“, wie Hauptgeschäftsführer Georg Baum sagt. „Er fördert die Risikovermeidung und erschwert die medizinische Versorgung schwerstkranker Patienten.“
Die Akteure, egal ob Arzt, Klinikleiter, Patient oder Krankenkasse, sind sich auffallend einig: Das Krankenhauswesen muss sich ändern. Auch Ärztevertreter Florian Gerheuser vom Marburger Bund Bayern sagt: „Ein Patient ist kein Werkstück.“ Es sei gut, dass Kliniken versuchen, wirtschaftlich zu arbeiten. Doch das Wohl des Patienten müsse über ökonomischen Gesichtspunkten stehen. Medexo-Chef Loh fordert: „Der Chefarzt einer Klinik muss wieder mehr Entscheidungen selbstständig ohne wirtschaftlichen Druck treffen können.“ Dem wirtschaftlichen Leiter in den Kliniken würde zu viel Macht eingeräumt, dabei bliebe der Patient häufig auf der Strecke.
Zweitmeinungen sollten vor jeder OP eingeholt werden
Eine verpflichtende, unabhängige Zweitmeinung vor jeder Operation einzuholen, wäre für Michael Meyer ein Schritt in die richtige Richtung. Allerdings sollte der Arzt den Patienten persönlich untersuchen, bevor er ein Gutachten erstellt, empfiehlt Ärztevertreter Gerheuser.
Für Michael Meyer kommen solche Überlegungen zu spät. Trotzdem findet er die Diskussion wichtig: Nur so könne sich das Gesundheitssystem weiterentwickeln. Für ihn heißt es jetzt, positiv nach vorne zu schauen. Er betreut gerade seine Kinder. Beruflich will er umschulen. Und dann sein Leben so normal wie möglich weiterführen.
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