Was von dem Glanz der ehemaligen Bundeshauptstadt geblieben ist
Von wo aus soll das Deutschland regiert werden? Vor 25 Jahren stimmten die Abgeordneten für Berlin. Und heute? Eine Suche nach dem verbliebenen Glanz der Bonner Republik.
Der Amerikanische Klub, das war schon etwas, schwärmt Ursula Köhler. Und dass sie und ihr Lebensgefährte jede Woche dort waren. Auf Empfängen und auf Bällen. Der Klub war in Bonn der Treffpunkt für Diplomaten aus aller Welt. Heute sitzt Ursula Köhler im Café Insel in Bad Godesberg, dem ehemaligen Diplomatenviertel der Stadt. Der dicke braune Teppich und das dezente Licht lassen noch immer erahnen, dass hier einst Botschafter aus aller Welt am Kaminfeuer saßen und internationale Politik diskutierten. Doch wie das Café scheint auch die 80-Jährige aus der Zeit gefallen. Ihre toupierten weißen Haare ragen weit über ihren Kopf, ihre Augen sind mit dickem Schwarz umrandet, die Lippen knallrot. Die vornehm blasse Haut wirft an den Augen sympathische Falten. Diese Augen haben oft gelacht, im Amerikanischen Klub, zu Zeiten der Bonner Republik.
Die Frage nach der neuen Hauptstadt wurde überall diskutiert
Doch das ist Vergangenheit: Seit der Deutsche Bundestag vor genau 25 Jahren beschlossen hat, seinen Sitz nach Berlin zu verlegen. Seit die meisten Diplomaten mit dem Regierungstross in die neue Hauptstadt gezogen sind. Das besiegelte letztlich auch das Ende des Amerikanischen Klubs. Für Ursula Köhler und ihren Lebensgefährten, einen Diplomaten, begann ein neuer Abschnitt – ebenso wie für die Stadt, die einst das politische Machtzentrum der Republik war.
Dem Beschluss war eine emotionale Debatte vorausgegangen. Eduard Oswald aus Dinkelscherben, der damals als Abgeordneter im Bundestag saß und später als Bauminister Umzugsbeauftragter war, erinnert sich: „Es gab keine Gelegenheit, bei der nicht darüber gesprochen wurde.“ In der ganzen Stadt habe man über die Frage diskutiert, ob die Regierung nach Berlin umziehen solle. „Das Thema war immer präsent; beruflich und privat.“
Auf der einen Seite stand die Angst der Bonner, was bei einem Umzug der Regierung aus ihrer Stadt würde. Auch wirtschaftliche Bedenken standen im Raum. Immerhin warf die eben beschlossene Wiedervereinigung bereits dunkle finanzielle Schatten voraus. „Andererseits hatten wir immer betont, dass Bonn nur eine provisorische Hauptstadt sei“, sagt Oswald. Die Rückkehr der Regierung nach Berlin sollte die Wiedervereinigung symbolisch perfekt machen.
Also Berlin? Oder doch Bonn? Am 20. Juni 1991 diskutieren die Abgeordneten fast zwölf Stunden lang über das Thema. Leidenschaftlich. Hitzig. Auch abseits des Plenums rangen sie mit ihrer Entscheidung. Oswald erinnert sich: „Man besprach sich in der Lobby mit Kollegen: Hast du dieses Argument schon gehört? Wie ist deine Meinung zu diesem Aspekt?“ Zurück im Plenum stimmte Oswald schließlich gegen Berlin.
Arbeitsplätze der staatlichen Angestellten standen auf dem Spiel
Um 21.47 Uhr gab Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth – sichtlich von der Bedeutung des Augenblicks gerührt – das Ergebnis bekannt: Für Bonn hatten 320 Abgeordnete gestimmt, für Berlin 337. Dass es auch zwei Enthaltungen gab, ging im Applaus und Durcheinander beinahe unter. Die Abgeordneten standen auf, Hände wurden geschüttelt, Parteikollegen umarmt. Ein Gänsehautmoment der deutschen Demokratie.
Oswald ging im Anschluss zurück in sein Büro und fand dort seine Mitarbeiter am Gang versammelt vor. Viele hatten Tränen in den Augen, erzählt er. „Es war klar, dass manche nicht von Bonn wegkonnten. Das war sehr emotional.“ Mit dem Umzug der Regierung, der erst 1999 stattfand, standen zwar nicht die Arbeitsplätze der Beamten, aber der staatlichen Angestellten auf dem Spiel. Auch Hotels und Handel bangten um ihre Zukunft. Und es ging auch um den Stolz der Bonner, deren Stadt nun zur „Bundesstadt“ degradiert war.
Mit dem Berlin-Bonn-Gesetz sollte drei Jahre später diese Gefahr gebannt werden. Seitdem flossen 1,4 Milliarden Euro als Ausgleich in die Region: Es wurde eine ICE-Anbindung geschaffen; 18 Organisationen der UN, die Deutsche Welle und ein Kongresszentrum wurden angesiedelt. Die Deutsche Post und die Telekom, die aus der Deutschen Bundespost hervorgingen, behielten ihren Sitz in Bonn. Außerdem verblieben manche Bundeseinrichtungen und -ministerien am Rhein, andere kamen dazu. Von den finanziellen Hilfen ging der größte Anteil in die Wissenschaft. So wurde etwa die Stiftung Caesar gegründet, die heute mit dem Max-Planck-Institut auf dem Gebiet der Neurowissenschaften forscht, ebenso wie drei Fachhochschulen und ein Zentrum für Informationstechnologie.
Professor Tilman Mayer sagt: „Bonn braucht sich wissenschaftlich nicht zu verstecken.“ Er lehrt an der Universität Bonn politische Theorie, Ideen- und Zeitgeschichte. Für sein Fach bedeutete der Umzug der Regierung nach Berlin allerdings Nachteile: „Für uns Geisteswissenschaften ging natürlich Abwechslung verloren.“ Bis dahin wurden regelmäßig Amtsträger in Seminare eingeladen, die Wege waren schließlich kurz. Manche Abgeordnete bestritten sogar eigene Vorlesungen. Mayer sagt: „Aber damit kehrten wir lediglich zur universitären Normalität zurück: Andere Hochschulen hatten das auch nicht.“
Im „Langen Eugen“, dem Wahrzeichen der Bonner Republik, hatten einst die Abgeordneten ihre Büros. Heute sind hier verschiedene UN-Organisationen untergebracht. Nebenan, im ehemaligen Kanzleramt, sitzt das Entwicklungsministerium. Hier, im einstigen Regierungsviertel, scheint man sich inzwischen leichter mit Englisch verständigen zu können als mit Deutsch. Man begegnet Indern, Schwarzafrikanern, Asiaten, Arabern. Gesprächsfetzen über Projekte in Drittweltländern wabern durch die Luft, es herrscht eine geschäftige Atmosphäre. „Der Hauptstadtbeschluss ist Bonn gut bekommen, wir leiden hier keinesfalls“, sagt Mayer. Statt Bundespolitik gebe es heute eben neue Themen.
Manche Bundestagsmitarbeiter sind in andere Behörden gewechselt
An früher, an die „Bonner Zeiten“, wie Einheimische sagen, erinnert in der Stadt kaum noch etwas. Zwar trägt die Straße, an der noch immer Ministerien ihren Sitz haben, je nach Abschnitt so klangvolle Namen wie „Adenauerallee“ oder „Willy-Brandt-Allee“. Doch ist die Allee eher eine Zweckstraße. Von ehemaligem Hauptstadtprunk ist jedenfalls nichts zu sehen.
Doch den, so scheint es heute, gab es nie. Die gläsernen Schwingtüren an den Eingängen vieler Ministerien sind eingefasst von biederem goldfarbenem Metall. Immer wieder geben Seitenstraßen den Blick frei auf nüchterne Wohngebiete, zweistöckige Mehrparteienhäusern mit betonierten Balkonen, auf denen Geranien wachsen. Häuser, in denen auch die eigene Tante hinter Spitzengardinen wohnen könnte.
Für Peter Kreul ist all das vertraut. Heute geht der 80-Jährige nahe des Regierungsviertels spazieren. Vor Jahrzehnten noch hat er unweit von hier, im Bonner Bundestag, gearbeitet. Kreul betreute Sitzungen und führte Botengänge aus. „Früher war hier mehr Betrieb, mit all den Journalisten und den Landesvertretungen.“ Auch Kreul musste sich nach 1991 entscheiden, ob er mit dem Bundestag nach Berlin zieht. So wie viele seiner Kollegen, die entweder mitgegangen sind oder in andere Behörden gewechselt haben. „Ich selbst bin lieber in Rente gegangen“, sagt Kreul. Er war damals 64.
Ursula Köhler sitzt noch immer im Café Insel, ein Glas Selters auf dem Tisch vor sich. Als nach dem Wegzug der Regierung immer mehr UN-Organisationen nach Bonn kamen, hofften sie und ihr Lebensgefährte, das Flair aus alten Tagen würde zurückkehren. Vielleicht sogar der Amerikanische Klub. Doch daraus wurde nichts. Stattdessen hält sie nun vergilbte Fotos in ihren Händen. Eines der Bilder ist erst kürzlich entstanden. Es zeigt ihren Lebensgefährten in akkurat gebügeltem Hemd mit Anzughose und Krawatte auf dem Sofa. „Was anderes hätte er nie angezogen.“ Das war kurz vor seinem Tod. Den Amerikanischen Klub, sagt sie, hat er nie ganz hinter sich lassen können.
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