Wenn die Steuer stärker steigt als das Gehalt
Der Abbau der kalten Progression ist wieder ein Thema - sogar in der SPD wird über Steuererleichterungen laut nachgedacht.
Eigentlich hatten sich Union und SPD darauf verständigt, in dieser Wahlperiode die Finger von der Einkommensteuer zu lassen. Mittlerweile jedoch räumen selbst sozialdemokratische Finanzminister wie Carsten Kühl in Rheinland-Pfalz ein, dass der Staat vielen Bürgern etwas zu tief in die Tasche greift. „Da wir die Besteuerung nach Leistungsfähigkeit erhalten wollen“, sagt er, „dürfen wir nicht zulassen, dass dieses Prinzip auf lange Sicht durch die kalte Progression leidet.“ Auch Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) hat angedeutet, er lasse über „mögliche Anpassungen“ mit sich reden. Das heißt: Die Steuern könnten doch noch sinken.
Fast jeden trifft sie, aber kaum jemand versteht sie: Wie genau funktioniert die kalte Progression?
Im Prinzip ist sie nichts anderes als eine versteckte Steuererhöhung. Da der Staat seine Steuertabellen nicht regelmäßig an die Inflationsrate anpasst, rutschen Beschäftigte heute schon bei kleineren Lohnerhöhungen schnell in eine höhere Steuerstufe – und von ihrem zusätzlichen Verdienst bleibt ihnen unterm Strich nichts. Eine Krankenschwester mit einem Monatsgehalt von 2200 Euro zum Beispiel verdient bis zum Jahr 2017 sieben Prozent mehr, wenn ihr Gehalt in etwa mit der Inflation wächst. Damit sie sich nicht verschlechtert, dürfte sie bis dahin auch nur sieben Prozent mehr Einkommensteuer zahlen. Tatsächlich jedoch steigt die Steuerlast der Frau bis 2017 um zwölf Prozent. Unterm Strich verliert sie so trotz regelmäßiger Gehaltserhöhungen 174 Euro. Bei einer Ärztin in der gleichen Klinik addieren sich die Einbußen nach Berechnungen des Bundes der Steuerzahler auf mehr als 500 Euro.
Wie viel verdient der Fiskus an der kalten Progression?
Nach Berechnungen des Finanzministeriums, aus denen der Spiegel zitiert, addieren sich die Mehreinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden bis zum Jahr 2018 auf 28 Milliarden Euro. Noch drastischer sind die Zahlen, die der Bund der Steuerzahler in einer Modellrechnung für den Fall ermittelt hat, dass Löhne und Preise in den nächsten Jahren in etwa gleich steigen. Danach schröpft die kalte Progression die Bürger in der laufenden Legislaturperiode um 56 Milliarden Euro.
Die schwarz-gelbe Koalition hat versucht, den Beschäftigten einen Teil dieses Geldes wieder zurückzugeben. Woran ist sie gescheitert?
Am Bundesrat. Gegen die geplante Entlastung in Höhe von vier Milliarden Euro jährlich haben die von Sozialdemokraten, Grünen und Linken regierten Länder 2012 ihr Veto eingelegt. Sie waren nur zu einer Erhöhung des Grundfreibetrags in zwei Schritten bereit – oder, anders gerechnet: zu einer Steuerentlastung von etwa 2,5 Milliarden Euro.
Wenn die SPD jetzt ihre Meinung ändert: Warum entschärft Schäuble die Progression nicht gleich?
Der Finanzminister will im nächsten Jahr einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen und auch deshalb auf keinen Steuereuro verzichten. Außerdem knüpft die SPD ihr Angebot an Bedingungen – sie würde im Gegenzug gerne den Spitzensteuersatz von 42 auf 45 Prozent anheben, was die Union strikt ablehnt. Ein Kompromiss könnte eine Gegenfinanzierung durch das Streichen von Subventionen oder eine höhere Abgeltungssteuer für Kapitalerträge sein. Ende des Jahres will die Regierung einen Bericht über die Entwicklung der kalten Progression vorlegen. Vorher wird sich Schäuble kaum bewegen.
Kann der Staat die kalte Progression auch komplett verhindern?
Theoretisch ja – praktisch nein. Experten schlagen als Weg aus der Progressionsfalle einen „Tarif auf Rädern“ vor. Dabei wird die Inflationsrate automatisch in die Steuerprogression hineingerechnet. Die Regierung, die ein solches Gesetz beschließt, muss allerdings erst noch gewählt werden. Kein Finanzminister verzichtet freiwillig auf Geld, und schon gar nicht, wenn es so verlässlich und unspektakulär fließt wie die Milliarden aus der kalten Progression.
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