Wer kann die Flüchtlinge in Libyen stoppen? Eine Analyse
An der Südküste des Mittelmeers warten bis zu einer Million Menschen auf die Überfahrt nach Europa. Das Land steckt jedoch selbst in der Krise. Wie die EU jetzt eingreifen will.
Die Einsicht kommt spät. Der scheidende US-Präsident Barack Obama wurde kürzlich im TV-Sender Fox gefragt, was wohl der schlimmste Fehler seiner Amtszeit gewesen sei. Er sagte: „Wahrscheinlich, dass ich nicht für den Tag nach der Intervention in Libyen geplant habe ...“
Nach dem Zusammenbruch des Regimes gab es keine Strukturen mehr
In der Tat: Im Jahr 2011 gelang es libyschen Rebellen dank der Luftunterstützung der USA und weiterer westlicher Staaten, Diktator Muammar al-Gaddafi nach mehr als 40 Jahren an der Macht zu stürzen. Doch nach dem Zusammenbruch des Regimes existierten keine Strukturen mehr, die das Land hätten stabilisieren und zusammenhalten können. Die westlichen Regierungen hatten für diesen Fall nicht vorgesorgt. Libyen war zwar offiziell befreit, aber es gab keine Parteien mit demokratischer Tradition, keine funktionierende Zivilgesellschaft – stattdessen Milizen und Stammesclans, die sich gegenseitig misstrauten und bekämpften.
Die Folgen sind katastrophal: In Libyen herrscht bis zum heutigen Tag Chaos. Auch der jüngste Versuch, unter Vermittlung der Vereinten Nationen eine Einheitsregierung zu installieren, führte vorerst in eine Sackgasse. Deswegen ist auch keine Autorität in der Lage, die – laut Angaben aus Rom – bis zu eine Million Flüchtlinge zurückzuhalten, die in Libyen an der Südküste des Mittelmeers auf eine Überfahrt nach Europa warten.
Terrormiliz IS in Libyen
Verschärfend kommt hinzu, dass es der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) unter Ausnutzung der Wirren gelungen ist, in Libyen Fuß zu fassen. Sie hat seit über einem Jahr die Hafenstadt Sirte unter ihrer Kontrolle und breitet sich entlang der Küste aus. Die Terrorgruppe verfügt in Libyen über mehrere tausend Kämpfer und mischt im Geschäft mit den Flüchtlingen mit.
Das Komplizierte im Fall Libyen ist, dass sich zwei Probleme überlagern: Die Installation einer verantwortlichen Zentralregierung kommt nicht voran – und der Schutz der Grenze erscheint aus dem Land heraus unmöglich.
Für die neue Regierung hatte es zunächst gut ausgesehen. Gemäß dem von den UN vermittelten Abkommen, das auch eine neue Verfassung und Parlamentswahlen vorsieht, trat Ministerpräsident Fajis al-Sarradsch sein Amt zunächst ohne parlamentarische Bestätigung an. Er sollte die beiden konkurrierenden Regierungen in Tripolis und Tobruk ersetzen. Mehrere westliche Außenminister reisten in den vergangenen Tagen an, um Sarradsch den Rücken zu stärken – am Wochenende auch Frank-Walter Steinmeier. Am Montag wollte der neue Einheitspremier erste Ministerien in Tripolis übernehmen und sich in Tobruk, wo das international anerkannte Parlament tagt, einer Vertrauensabstimmung stellen. Doch diese wurde abgesagt und „auf unbestimmte Zeit“ verschoben. Damit fehlt Sarradsch die entscheidende Legitimation.
Schleuser sind in Libyen weiterhin ein Problem
Ungelöst ist auch das Flüchtlingsproblem, weil in Libyen den Schleusern nicht Einhalt geboten wird. Während die EU mit den anderen Südanrainern des Mittelmeeres Abkommen getroffen hat, ist dies mit Libyen nicht möglich. Dort verkaufen weiter Schlepperbanden zu horrenden Preisen Überfahrten in seeuntüchtigen Booten – und nehmen in Kauf, dass viele Flüchtlinge das Ziel nicht lebend erreichen werden.
Doch, auch wenn es sich zynisch anhört: Die meisten kommen durch. Und das stellt die Behörden im nur 300 Kilometer entfernten Italien vor große Herausforderungen. 2014 kamen dort 170.000 Flüchtlinge an, im vergangenen Jahr, als Hochbetrieb auf der Balkanroute herrschte, waren es immer noch 154.000. Syrer waren so gut wie keine darunter. In diesem Jahr befürchtet das Innenministerium 300.000 irreguläre Zuwanderer, weil vermutet wird, dass wegen der Schließung der Balkanroute und des EU-Türkei-Deals auch Syrer diesen Weg nutzen werden.
Die EU will endlich aktiv werden
Jetzt will die EU endlich aktiver werden – gegen das Ertrinken und gegen das Übersetzen gleichermaßen. Bisher dürfen Schiffe der Marinemission „Sophia“ nicht in libysche Hoheitsgewässer eindringen. Das soll sich ändern. Frankreich fordert sogar, mit Waffengewalt den IS vom Nachschub abzuschneiden.
Beschlossen haben die EU-Außen- und Verteidigungsminister vorerst aber nur, der neuen libyschen Regierung beim Aufbau der Küstenwache und weiterer Sicherheitsorgane zu helfen. Damit aber kann keines der großen Probleme als gelöst gelten.
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