Wir brauchen nicht „mehr“, sondern „weniger“ Europa
Die EU braucht eine Antwort auf die Frage, wie es nach dem Austritt Großbritanniens weitergehen soll. Doch die eigentliche Botschaft ist bei den Entscheidern nicht angekommen.
Die britische Regierung spielt auf Zeit und will den Austrittsantrag erst im Herbst einreichen; die Europäische Union dringt auf eine zügige Aufnahme der Gespräche über den Scheidungsvertrag. Das Tauziehen um den Vollzug des „Brexit“ bietet einen Vorgeschmack auf die zähen und kraftraubenden Verhandlungen, die das krisengebeutelte Europa jahrelang beschäftigen und von noch Wichtigerem ablenken werden.
Wobei es auch im Interesse Europas liegt, nach der Trennung zu einem guten Miteinander zu finden. Großbritannien bleibt ja ein unentbehrlicher Handelspartner und Verbündeter. Ein bisschen von jener Geduld, die man den Griechen gewährt, haben die Briten und ihre in Konfusion gestürzte Regierung verdient. Allerdings muss schon heute klar sein, dass der Zugang zum EU-Binnenmarkt nicht zum Nulltarif zu haben ist. Großbritannien hat der EU den Rücken gekehrt.
Wenn das Land auch künftig teilhaben will an den Vorteilen des gemeinsamen Marktes, muss es die Bedingungen – und dazu gehört die Niederlassungsfreiheit von EU-Bürgern – akzeptieren. So sind die Regeln. Gewährt die EU hier Rabatt, käme dies einer Einladung an andere Staaten gleich, dem britischen Beispiel zu folgen.
Schuld am Brexit ist die Regulierungswut der EU
Viel bedeutsamer als das Vorgeplänkel der Unterhändler ist die Antwort auf die Frage, wie es nach dieser historischen Entscheidung des britischen Volkes mit Europa weitergehen soll. Alle Versuche, den „Brexit“ als (korrigierbaren) Betriebsunfall und als Irrtum einer von Populisten verführten, ungenügend aufgeklärten Mehrheit darzustellen, lenken vom Kern des Problems ab und lassen den Respekt für ein demokratisches Votum vermissen.
Der Austritt Großbritanniens ist der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die seit langem im Gange und von einem enormen Vertrauensverlust in die Institutionen Europas geprägt ist. Vieles spielt da mit hinein: der Ärger über die Regulierungswut, die mangelnde Handlungsfähigkeit der EU in existenziellen Fragen wie dem Schutz der Außengrenze, gebrochene Verträge, die ewige Eurokrise, das Defizit an demokratischer Kontrolle, das Gefühl, fremdbestimmt zu sein. Die große Mehrheit der Europäer kennt und schätzt die Errungenschaften der Union, die Frieden und Wohlstand beschert hat. Aber die Völker wollen, zugespitzt gesagt, nicht von EU-Kommissaren regiert werden und die nationale Vielfalt gewahrt wissen.
Die Führung der EU hat die Botschaft nicht verstanden
Viel wäre schon gewonnen, wenn die politischen Eliten dieses Unbehagen endlich ernst nehmen und die Probleme, die wirklich nur gemeinsam zu lösen sind, entschlossener anpacken würden. Ein Patentrezept zur Rettung des Einigungsprozesses gibt es nicht. Es bedarf vieler kleiner, vertrauensbildender Maßnahmen – und des Versuchs, die Europäer aufs Neue von der europäischen Idee zu überzeugen. Die komplizierte Gemengelage in einem so großen, auch von natürlichen Interessengegensätzen geprägten Staatenbund erlaubt keine Reformen über Nacht. Für den Moment kommt es darauf an, den Laden zusammenzuhalten und den Bürgern zu signalisieren, dass die Botschaft angekommen ist.
Bei einem Großteil des Führungspersonals scheint das leider nicht der Fall zu sein. Kommissionschef Juncker will die Eurozone ausweiten, Parlamentspräsident Schulz fordert eine „wahre europäische Regierung“, SPD-Chef Gabriel ruft nach einer „Wirtschaftsunion“ und riesigen Investitionsprogrammen: Sie alle wollen „mehr“ Europa, obwohl die Lektion des Brexit „weniger“ Europa lautet. Wer ausgerechnet jetzt einer „Vertiefung“ der EU mitsamt einer weiteren Machtverlagerung nach Brüssel das Wort redet, der hat wirklich nicht verstanden.
Die Diskussion ist geschlossen.
Die nächste Folge: Die Bank von England wirft die Gelddruckmaschine an.
http://www.handelsblatt.com/politik/konjunktur/bank-of-england-mark-carney-signalisiert-geldpolitische-lockerung/13814844.html
NEIN - die Eurozone macht überhaupt keine geldpolitischen Lockerungen
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Es gibt ja Leute, die vor 2 oder 3 Jahren ihre Wohnungen verkauft haben, weil die Preise gerade so hoch wären - gell (Verstoß NUB 7.2/edit)
Guter Kommentar auch wenn die europäische Linke heult oder es wie unten wieder mit der klassischen AfD Verunglimpfung versucht.
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Erwähnenswert, wie angenehm vernünftig Altkanzler Kohl in der Sache auftritt:
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http://www.spiegel.de/politik/deutschland/brexit-altkanzler-helmut-kohl-warnt-vor-ueberhasteter-reaktion-a-1100529.html
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Kohl mahnte in dem Bericht, Europa müsse eine Atempause einlegen, einen Schritt zurückgehen und dann langsam zwei Schritte vorangehen - in einem Tempo, das mit den Mitgliedstaaten machbar sei. Er plädierte auch dafür, die nationalen und regionalen Eigenständigkeiten und Identitäten der einzelnen Mitgliedstaaten stärker zu achten und mehr Respekt vor der Geschichte und Befindlichkeit der Partner zu haben.
Die bereits eingetretenen Folgen des bisher nur angekündigten Brexits scheinen Sie nicht zu interessieren. Dass die auf Lügen basierenden Versprechungen bereits alle wieder einkassiert wurden, wohl auch nicht.
Der realwirtschaftlichen Folgen bewegen sich im Rahmen jahreszeitüblicher Börsenunwetter.
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Der DAX hat nach dem Brexit-Votum aktuell das Niveau wie vor 3 Monaten.
Sie sind auf dem Holzweg, wenn Sie glauben, dass Sie die katatastrophalen Folgen des Brexits für die britische Wirtschaft am DAX ablesen können:
Heute ist zu lesen, dass die Bankenaufsicht London verlässt, dass die Banken Zehntausende Stellen abbauen, dass Siemens Investitionen in eine Windkraftfabrik stoppt, dass Vodafone wohl von London weggeht, dass die japanische Autoindustrie mit Tausenden von Arbeitsplätzen in heller Aufregung ist, usw..
Die Inflation wird steigen, weil die Briten kaum Industrie haben und nun alles mit ihrem abgestürzten Pfund teuer einkaufen müssen. Eine Rezession steht vor der Tür. Schöne Aussichten, die sich in den Aktienkursen englischer Unternehmen erst in den nächsten Monaten und Jahren so richtig auswirken werden.
Walter Roller merkt offensichtlich nicht, dass er sich fortwährend selbst widerspricht. Er überschreibt seinen Kommentar mit der Forderung nach „nicht mehr, sondern weniger Europa“, um dann „die mangelnde Handlungsfähigkeit der EU in existenziellen Fragen“ zu beklagen.
Wer ist denn verantwortlich für „gebrochene Verträge“? Doch nicht die EU, sondern die Nationalstaaten, die Vereinbartes nicht ausführen.
Wie soll das „Defizit an demokratischer Kontrolle“ behoben werden, wenn nicht durch eine Vertiefung der EU?
Heute beklagt Herr Roller in einem Kommentar zum IS-Terror, dass die EU nicht genug für unsere Sicherheit unternimmt. Ja was nun? Soll die EU nun mehr oder weniger tun?
Er kritisiert die „Regulierungswut“ der EU. Dabei übersieht er, dass dahinter oft nur Forderungen der Wirtschaft stehen, die Standards für den gemeinsamen Wirtschaftsraum brauchen. Viele EU-Regulierungen betreffen den Verbraucherschutz (z. B. Roaming-Gebühren) oder dienen der Erreichung der Klimaziele (z.B. die Leistungsvorgaben für Staubsauger). Vielen passt das nicht oder sie verstehen es nicht und nutzen es für ihre Attacken gegen die EU.
Und was hat die „ewige Euro-Krise“ (was meint er aktuell damit?) mit der EU zu tun? Ein bisschen intellektuelle Schärfe würde einem Leitartikel schon gut tun.
Herr Roller unterstützt mit seinen unausgegorenen, nicht durchdachten Aussagen regelmäßig die Hetzparolen der Rechtspopulisten, die ihm dann als Dank die Leserbrief-Spalten seiner Zeitung füllen. Mir wird diese Zeitung zunehmend fremd.
Tja, nicht nur unter Politikern - auch unter Leitartiklern gibt es Populisten . . .
Die Rufe nach weniger Europa kann man doch schon garnicht mehr hören. Ein Wasserkopf hat die Eigenschaft sich unaufhörlich zu vergrößern - so lange bis er platzt.
Die einzig passable Lösung in meinen Augen ist: zurück zu den Statuten und Regeln der EWG. Das wäre in jedem Lande mehrheitsfähig. Und alles darüber hinaus ist eben nicht mehrheitsfähig wie die letzten Jahre zeigten.
Nach allen zuletzt veröffentlichten Umfragen in Europa ist das sehr mehrheitsfähig und auch auf der Insel ist in dieser Hinsicht das letzte Worte noch nicht gesprochen.
OK - Sie wissen ja selbst wie das mit Umfragen so ist. Wenn ich mir die Wahlen(nicht nur in Deutshland) der letzten 10 Jahre, nur um einen Zeitraum zu nennen, und die dazu gehörigen Prognosen so ansehe, dann waren Ergebnis und Prognose doch öfters mal relativ weit auseinander, oder?
Aber Sie wissen, dass das Gegenteil der Aussage der Umfrage richtig ist?
Das Beispiel Großbritannien dürfte einigen Skeptikern die Augen geöffnet haben. Dort herrscht jetzt das nackte Chaos. Es gibt keine Regierung mehr, keine Opposition mehr, das bisher excellente Rating wurde deutlich herabgestuft, die Wachstumsprognose von 2,1 % auf 0,3 % herabgesetzt und am Ende droht mit dem "Schexit" der Schotten auch noch der Zerfall des Landes. Der Urheber Johnson macht sich derweil vom Acker. Gratulation zu diesen ersten Erfolgen!
Ein Wasserkopf hat die Eigenschaft sich unaufhörlich zu vergrößern
Stimmt. Insofern ist es blauäugig, zu erwarten, daß sich eine Organisation wie die EU ohne Druck von aussen selbst reformiert.
Siehe "Parkinsonsche Gesetze"
https://de.wikipedia.org/wiki/Parkinsonsche_Gesetze
An der EU prallt jeder Druck von außen doch ab. Selbstgefälligkeit ist eine Tugend in der EU-Kommission.
Vielleicht haben Sie von CETA gehört, einem Handelsabkommen mit Kanada. Juncker besitzt auch noch die Frechheit zu sagen, daß man dieses Abkommen bewusst ohne die Mitgliedsstaaten macht.
So viel zum Lernprozess innerhalb der EU.....
Der Leitartikel zeigt richtig auf, welche Gemütslage zur Brexit-Entscheidung beigetragen hat. Er deutet die Richtung an, in der die Lösung liegen kann: kleine Schritte, Vertrauen aufbauen, die wichtigen Themen aufgreifen, Ergebnisse liefern. Man kann trefflich diskutieren, ob man England gegenüber auf rasche Umsetzung drängt oder etwas zuwartet und hofft, die Briten würden es sich nochmals überlegen.
Die falsche Lektion ist jedoch, nun nach weniger Europa zu rufen. Wenn es wenigstens weniger vom mangelhaften Europa und mehr vom wertvollen wäre. Aber nein: der Leitartikel befeuert die von Populisten gebrauchten Argumente. Die Volksentscheidung ist per se gut, die Hinweise auf fragwürdige Argumente bis hin zu Lügen sind Ablenkung. So stößt der Leitartikel nur in das Horn, in das auch die AfD bläst.
Ausführlicher und mit Zitaten von der AfD-Website zur Untermauerung unter
http://az-beobachter.blogspot.de/2016/06/walter-rollers-lektion.html