Auf den Gipfel getrieben
Die Organisatoren schicken die Fahrer am Donnerstag und am Freitag jeweils über den legendären Col du Galibier. Dort wird die Entscheidung über den Gesamtsieg fallen
Grenoble Kein schöner Tag, dieser 27. Juli 1998. Es regnet, nur zehn Grad zeigt das Thermometer im Tal. Über 2000 Meter mischt sich Graupel unter die Regentropfen, Böen pfeifen um die Gipfel. Kein Wetter zum Radfahren – die Profis der Tour de France genießen aber keinen Schutz. Das Feld ist auf dem Weg von Grenoble nach Les Deux Alpes, 189 Kilometer bei Sauwetter. Der junge Deutsche Jan Ullrich trägt das Gelbe Trikot. Aber der Galibier wird ihn heute brechen.
Die Spitzengruppe hat Valloire bereits hinter sich. Von da sind es 18,1 Kilometer mit durchschnittlich 6,9 Prozent Steigung bis zur 2646 Meter hoch gelegenen Passhöhe. Knapp sechs Kilometer fehlen noch, als Marco Pantani antritt – in einer Geraden. Ullrich versucht ein paar Tritte mitzugehen, kann aber nicht. Der „Pirat“ tritt, als sei es fast eben. Für Ullrich beginnt dagegen an der Nordseite des Galibier eine üble Schinderei. Das geplante Fest in Gelb endet für ihn mit dick geschwollenen Augen und fast neun Minuten Rückstand auf Pantani im Etappenziel Les Deux Alpes. Der Toursieg 1998 war für Ullrich unerreichbar geworden, der Traum von der Titelverteidigung platzte in den Rampen des Galibier.
Das Leiden der Renner war schon vor 100 Jahren gut fürs Geschäft
57 Mal ging das Rennen bisher über den Galibier, große Entscheidungen wie 1998 waren aber eher selten, weil nach dem Galibier meist noch ein anderer Pass auf die Fahrer wartet oder zumindest noch eine lange Abfahrt. Bei der Tour in diesem Jahr wird das anders. Gleich zweimal geht es über den Galibier. Einmal sogar als Premiere. Die 18. Etappe am Donnerstag endet von der Südseite her gefahren auf der Passhöhe und ist damit die höchste Bergankunft in der Geschichte der Tour. Am Freitag rollt eine Kurzetappe über 109 Kilometer über die Nordseite und führt schließlich nach Alpe d’Huez. Danach dürfte das Klassement entschieden sein.
Woher kommt der ungeheure Ruf des Col du Galibier? Es muss die schiere Höhe sein. Der Pass ist zwar sehr lang und teilweise auch schwer, aber bei passablem Wetter durchaus fahrbar. Für die Profis ist vor allem die Länge das Problem. Zwei Stunden bergauf, knapp 36 Kilometer mit 2000 Höhenmetern, nur kurz unterbrochen durch die Abfahrt vom Telegraph, das zehrt.
100 Jahre ist es her, dass die Tour zum ersten Mal über den Galibier rollte. 1911 stellte sich der Alpenpass bei einer 366 Kilometer langen Etappe von Chamonix nach Grenoble in den Weg. Die Fahrer kamen von Norden, Etappensieger Emile Georget war der Einzige, der seine 22x11-Übersetzung immer im Fluss halten konnte und nicht absteigen musste. Zuschauer gab es wenige, die Straße war damals oben von Schneewänden gesäumt und die Herren Profis nicht besonders angetan vom neuen Berg. Mit nur einem Gang, Starrachse und auf zerfurchter Schotterpiste durchaus nachvollziehbar. Tourchef Henri Desgrange aber war begeistert. Das Leiden der Renner war gut fürs Geschäft, sprich für die Auflage seiner Zeitung.
Aber nicht nur Heldenepen gab es auf dem Pass, auch den ersten Renntoten der Tour de France. Der Spanier Francisco Cepeda kam 1935 bei der Abfahrt auf der Südseite von der Straße ab und stürzte in eine Schlucht. Drei Tage später starb er an seinen Kopfverletzungen. Auch heute noch gibt es an vielen Stellen auf der Südseite keine Leitplanken.
5000 Euro Sonderprämie gibt es heuer für den Ersten oben am Galibier. Das „Souvenir Henri Desgrange“ erinnert an den Gründer der Tour. Der Mann war ein großer Fan des Alpenriesen. Auch nach dessen Tod 1940 blieb der Galibier weiter der Laufsteg großer Athleten, wenn auch nicht mehr in jeder Tour.
1952 entschied Fausto Coppi das Dauerduell mit Gino Bartali für sich. Zehn Minuten Vorsprung vor Bartali, vieles davon an der Nordseite des Galibier erkämpft.
17 Jahre später debütierte Eddy Merckx bei der Tour. Eigentlich wäre der Belgier gesperrt gewesen – beim Giro war er positiv getestet worden. Damals gab es für Doping eh nur vier Wochen Sperre, Merckx legte Protest ein, man habe ihm was untergejubelt, und kam damit durch. Merckx zeigte am Galibier dem Italiener Felice Gimondi die Grenzen, ließ ihn vor dem Gipfel stehen. Merckx gewann seine erste Tour und danach noch mal vier. Die Basis legte er am „Sacred Monster“, wie die Engländer den Galibier nennen.
Angst, weil es fast 40 Kilometer bergauf geht
Weniger theatralisch denken moderne Profis, die gestern einen Ruhetag genossen, über die hohen Rampen in den Savoyer Alpen. Der Ire Nicolas Roche fährt als Profi des französischen Teams AG2R die Tour. Der 26-Jährige verkörpert die aktuelle Generation der Radprofis, und die hat es nicht so mit Traditionen. „Der Galibier macht uns schon Angst, weil es fast 40 Kilometer bergauf geht“, sagt Roche junior. Alles andere sei freilich zweitrangig. „Uns Fahrer interessieren nur die Eckdaten: Wo sind die Steilstücke, wo wird es flacher, wo kann man sich etwas erholen.“
Für die Fans bleibt der Galibier ein ganz besonderer Laufsteg ihrer Stars. Als Voyeure des Leidens hoffen sie auf große Momente, die es am Galibier schon so oft gegeben hat. Zum bisher letzten Mal im Juli 1998, als Marco Pantani nach oben stürmte. Freuen kann er sich darüber nicht mehr. Der „Pirat“ starb im Februar 2004 in einem Hotelzimmer in Rimini an einer Überdosis Kokain. Einige behaupten, Pantanis Abstieg begann schon nach seinem Toursieg 1998. Eine der Legenden, die der Radsport so gerne hat.
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