Der Biathlon - Eine deutsche Liebesgeschichte
Der Biathlon treibt Millionen vor den Fernseher. Was macht die Liebe zum Wintersport aus? Über schlaue Funktionäre, eine glückliche Hilde und einen mahnenden Bundestrainer.
Hilde kommt dem deutschen Biathlon-Durchschnittsfan sehr nahe. Natürlich würde sie das selbst nie von sich behaupten. Und vermutlich fände sie es auch nicht besonders gut, wenn sie wüsste, dass es über sie geschrieben wird, obgleich sie ein sehr umgänglicher Mensch ist. Aber wer mag schon als Vorlage für eine Verallgemeinerung dienen? Andererseits: Wer schon einmal einen Biathlon-Weltcup besucht hat und dabei seine Blicke über die Zuschauerränge schweifen ließ, kommt an Hilde nicht vorbei. Eine schlanke Dame, grau meliertes, kurz geschnittenes Haar, rahmenlose Brille, auf der linken Wange drei Streifen Schminke in der Kombination Schwarz, Rot, Gold. Festes Schuhwerk. Dicke Skijacke. Aus dem Rucksack ragen zwei Wanderstöcke und eine Deutschlandfahne.
Die Kinder sind längst aus dem Haus. Der Mann ist ihr geblieben. Er, Günther, teilt Hildes Begeisterung für Biathlon. Unzählige Wochenenden haben sie gemeinsam in ihrer Erfurter Eigentumswohnung vor dem Fernseher gesessen. „Uschi Disl war eigentlich die Erste, mit der wir so richtig mitgelitten haben“, erzählt Hilde. Später war es dann, natürlich, Magdalena Neuner. „Die hatte einfach alles. Eine tolle Biathletin, nett – und gut ausgesehen hat sie auch noch“, sagt Günther.
Auf den Spuren der deutschen Biathlon-Mannschaft
Seitdem die beiden in Rente sind, nutzen sie ihre freie Zeit und reisen der deutschen Mannschaft hinterher. Nicht zu jedem Rennen, das wäre zu anstrengend. Immerhin sind Hilde und Günther schon Ende 60. Ihn zwickt es im Rücken. Sie kann nicht mehr so lange stehen: die Knie. Die Weltmeisterschaft in Oslo allerdings haben sich die beiden nicht nehmen lassen. Auch nicht von der Arthrose. Vor einigen Jahren lernten sie beim Weltcup in Ruhpolding eine Gruppe Gleichgesinnter kennen. Seitdem haben sie sich immer wieder getroffen. In Oberhof, in Antholz, in Hochfilzen. Und jetzt eben in Oslo.
Hilde und Günther sind nur zwei von einigen tausend Fans, die sich auf den Weg nach Norwegen gemacht haben. Neben den Gastgebern sind es vor allem die Deutschen, die auf den Tribünen im Schatten der Skisprungschanze den Ton angeben. Die Deutschen lieben Biathlon. In keinem anderen Land genießt die Kombination aus Langlauf und Schießen eine derart große Popularität. Auf der Suche nach dem Warum gab es schon diverse Erklärungsversuche.
Der Biathlon - ein Sport für die Generation Volksmusik?
Die Wochenzeitung Die Zeit, ein nicht des Reißerischen verdächtiges Blatt, entfachte im vergangenen Jahr eine muntere Diskussion, als sie mit spitzer Feder feststellte, dass das wahre Biathlon-Herz in deutschen Wohnzimmern schlage, „zwischen Blümchendecken und Doppelvitrinen“. Es war des Weiteren die Rede von Eierlikör und imaginären Kuhglocken, und es tauchte die These auf, Biathlon sei das Traumschiff des Sports. „Pittoreske Landschaften, vertraute Gesichter und die volle öffentlich-rechtliche Gefühlspalette.“ Zudem hege man hierzulande wohl immer noch eine besondere Vorliebe für das Militärische.
Die Reaktionen waren größtenteils unfreundlich, um es freundlich auszudrücken. Der Autor musste feststellen, dass es keine gute Idee ist zu behaupten, nur volksmusikaffine Rentner mit Sympathie für den Berufsstand des Unteroffiziers interessierten sich für Biathlon.
Zur Beruhigung der Lage sei an dieser Stelle erwähnt, dass sich durchaus auch jüngere Fans beim Biathlon sehen lassen. Die Mehrheit allerdings heißt Hilde. Und Günther. Dabei haben die beiden mit Volksmusik nichts am Hut. Und Günther hat seinerzeit zwar gedient, das aber als Sanitäter im Innendienst. Ein Gewehr bekam er nur einmal in die Hand gedrückt, das war in der Grundausbildung. „Ob ich damit geschossen habe, weiß ich gar nicht mehr“, sagt er.
Der perfekte Fernsehsport: Das macht den Biathlon so beliebt
Was ist es also, was Biathlon so attraktiv macht? Das Ehepaar ist sich einig. Es ist die Spannung, die diesem Sport durch die Unwägbarkeit des Schießens innewohnt. Ein Windstoß zur falschen Zeit, und schon verschwindet der Favorit in der Strafrunde. Der Grat zwischen Erfolg und Misserfolg ist schmal. Umso erstaunlicher, dass seit vielen Jahren immer wieder deutsche Biathleten ganz vorne landen. In der geschlechterübergreifenden ewigen Bestenliste für Weltmeisterschaften stehen unter den ersten Zehn gleich sechs deutsche Namen. Hinter dem nimmermüden Ole Einar Björndalen aus Norwegen (19 Titel), der auch mit 42 Jahren noch Weltspitze ist, folgt schon Magdalena Neuner mit zwölf Goldmedaillen.
Dazu kommt, dass Biathlon der perfekte Fernsehsport ist. Lange Zeit bildeten malerisch verschneite Landschaften die Kulisse. Inzwischen schlängeln sich, dem Klimawandel geschuldet, oft nur noch künstlich erzeugte Loipen durch Gegenden, die früher mal als schneesicher galten. Den Fan im heimeligen Wohnzimmer ficht das nicht an. Während der Zuschauer vor Ort frierend im Matsch steht und das Renngeschehen bestenfalls auf einer Videoleinwand verfolgen kann, bekommt der TV-Fan jede Regung der Sportler in Superzeitlupe und aus zig Perspektiven ins Wohnzimmer geliefert. Drohnen sirren durch die Luft und liefern spektakuläre Bilder vom Schießstand. Eine geschickte Kameraführung belässt den tristen Hintergrund im Hintergrund. Wer wo wie schnell läuft und am Schießstand um wie viele Millimeter zu hoch oder zu tief geschossen hat – im Fernsehen wird’s gezeigt und sofort von Experten analysiert. Der Aufwand lohnt sich für die Sender, die Einschaltquoten sind hoch und pendeln bei Weltcuprennen regelmäßig zwischen drei und fünf Millionen. Bei Großereignissen schnellt die Zahl noch weiter nach oben. Bei den Olympischen Winterspielen 2010 in Vancouver knackte ein Biathlonrennen erstmals die Zehn-Millionen-Marke. Es war die Zeit der Magdalena Neuner. Außerhalb des Fußballs kommt allenfalls die Formel 1 über einen längeren Zeitraum auf vergleichbare Werte.
Ist die Evolution Biathlon am Ende angekommen?
Biathlon ist zu einem millionenschweren Geschäft geworden. Seine Ursprünge liegen in den Wäldern des hohen Nordens. Schon vor Jahrhunderten gingen die Jäger dort auf langen Brettern mit Pfeil und Bogen auf die Pirsch. Das norwegische Militär verfügte seit dem 16. Jahrhundert über Skiregimenter. Das Vorbild machte Schule, und es entwickelte sich der Skipatrouillenlauf, in dem die Nationen gegeneinander antraten. Für die breite Öffentlichkeit war der Sport aber noch lange kein Thema. Erst bei den Olympischen Spielen 1924 gab es einen Demonstrationswettbewerb.
Mit dem modernen Biathlon hatten die Wettbewerbe damals wenig gemeinsam. Die Sportler rannten in den Wald, dort gab es irgendwo ein paar Schießstände am Wegesrand. Und Sieger war, wer als Erster wieder aus dem Wald herauskam. Fernsehtauglich war das nicht. Heute sind die Runden kurz und die Schießstände das Zentrum der Wettbewerbe. Neue Disziplinen wie die Verfolgung oder der Massenstart kamen hinzu. Oder das jährliche Preisgeldrennen in der Fußball-Arena auf Schalke, mit Live-Übertragung zur besten Sendezeit. Jüngstes Beispiel ist die Single-Mixed-Staffel. Erste Mahner wie Frauen-Bundestrainer Gerald Hönig warnen inzwischen davor, Biathlon noch weiter zu zerfleddern: „Wir sollten langsam am Ende der Entwicklung angekommen sein.“
Weltverband IBU macht ein Millionengeschäft mit Biathlon
Der Weltverband IBU sieht das vermutlich etwas anders, immerhin ist er der größte Profiteur immer neuer Wettbewerbe. Allein die beiden öffentlich-rechtlichen Sender ARD und ZDF sollen jährlich einen Betrag im niedrigen zweistelligen Millionenbereich für die Übertragungsrechte zahlen. 1993 hatte die IBU noch einen Etat von rund 400.000 Euro. 2012 hatte der Verband angeblich schon 15 Millionen Euro zur Verfügung. Inzwischen ist es vermutlich deutlich mehr. Allein der Etat der WM in Oslo beläuft sich auf zehn Millionen Euro. Im Vergleich zu den aberwitzigen Summen im Fußball nimmt sich das zwar immer noch bescheiden aus, die Erfolgsgeschichte des Biathlons ist trotzdem beeindruckend. Allerdings ist sie auch ein lokales Phänomen. Neben Deutschland gelten noch Russland und die skandinavischen Länder als dem Biathlon zugeneigt. Darüber hinaus wird es schon schwierig, eine Nation mit breitem Interesse für ihre Skijäger zu finden. Selbst in Frankreich, das sich bei dieser WM zur absoluten Nummer eins mausert, fristet Biathlon ein Nischendasein.
Nimmt man die Einschaltquoten in Deutschland als Maßstab, scheint auch hierzulande der Höhepunkt erreicht. Die Zahlen sind leicht rückläufig, sagt IBU-Kommunikationsdirektor Peer Lange. Der Weltverband will dem Trend entgegenwirken. „Wir sehen vor allem in den digitalen Medien großes Potenzial“, sagt Lange. Ziel sei es, auch jüngere Schichten für Biathlon zu begeistern. „Momentan ist unsere Kerngruppe zwischen 35 und 75 Jahre alt. Bei den 18- und 19-Jährigen tun wir uns dagegen schwer.“ In Planung sind deshalb gleich mehrere virtuelle Projekte, um Biathlon erlebbarer zu machen. „Vor allem aber brauchen wir coole Typen im Biathlon, mit denen man sich identifizieren kann. Die haben wir, auch wenn sich nicht jeder dafür eignet.“
Wird Laura Dahlmeier der neue Publikumsliebling?
Hilde und Günther muss der Mann nicht mehr überzeugen. Sie sind Fans der ersten Stunde. Geduld und Treue, das zeichnet sie aus. Deutsche Biathlonfans verzeihen Misserfolge. Nach dem überraschenden Rücktritt von Magdalena Neuner vor vier Jahren war die Sorge groß, dass die besten Zeiten vorbei sein könnten. Es tat sich ein sportliches Loch auf, in das erst jetzt würdige Nachfolger rücken. Das Fernseherlebnis bleibt. „Wir schalten doch nicht ab, wenn es mal nicht so läuft“, sagt Hilde.
Natürlich haben sie den Aufstieg von Laura Dahlmeier verfolgt, dem neuen Star aus Garmisch-Partenkirchen. In Oslo hat sie schon drei Medaillen geholt. Eine wie sie hat das Zeug zum Publikumsliebling. Bodenständigkeit ist gefragt. „Und dieser bayerische Dialekt ist einfach putzig“, sagt Günther. Am Montag fliegen die beiden mit ihrer kleinen Reisegruppe wieder nach Hause. Im Gepäck haben sie dann auch Autogramme von Laura Dahlmeier. Nach dem Training haben sie die Athletin kurz getroffen. „Die war super freundlich“, erzählt Hilde. Manchmal ist es so einfach, Menschen glücklich zu machen.
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