Nicht immer müssen die Mandeln gleich raus
Wann ist eine Mandel-Operation nötig? Eine neue Leitlinie soll nun für mehr Klarheit sorgen. Die Eingriffe sind deutlich seltener geworden, sagt ein Chefarzt. Was dahinter steckt.
Wer schon mal eine eitrige Mandelentzündung (Tonsillitis) hatte, weiß, wie belastend das ist. So wie Werner Karl (Name geändert): Fieber, Schwäche, ausgeprägtes Krankheitsgefühl und schlimme Halsschmerzen, besonders beim Schlucken – all das hat er immer wieder gehabt, und selbst seine Hochzeit hat er nur dank einer großen Penicillinspritze überstanden. An eine Operation hat er trotzdem nie gedacht. Irgendwann war die Phase der häufigen Mandelentzündungen vorbei, Karl glaubt, dass ihm ein einfaches homöopathisches Mittel geholfen hat.
Eine Mandel-Entfernung tritt häufig bei Kindern auf
Andere setzen in seiner Situation auf einen Eingriff – ebenso Eltern, deren Kinder aufgrund vergrößerter Mandeln unter Schlafstörungen und Atembeschwerden leiden. Die Entfernung der Gaumenmandeln, Tonsillektomie genannt, ist die häufigste stationäre Operation im Kindes- und Jugendalter und die häufigste Leistung der Fach- und Belegabteilungen für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde. So steht es im „Faktencheck Mandeloperation“ der Bertelsmann Stiftung. Und es wird darin beklagt, dass es große regionale Unterschiede bei der Zahl der Eingriffe gebe, was den Verdacht nährt, es werde mancherorts zu häufig operiert.
Professor Johannes Zenk, Chefarzt der HNO-Klinik am Augsburger Klinikum, ist einer, der diesem Verdacht widerspricht. HNO-Ärzte und -Kliniken machten sich viele Gedanken darüber, die Indikation für den mitunter gefährlichen Eingriff sinnvoll und richtig zu stellen, erklärt er. Über die vergangenen 20 Jahre betrachtet, sei die Operation auch deutlich seltener geworden. Seien die Indikationen noch in den 1980er Jahren noch relativ weit gestellt worden, so habe man dies schon seit längerem beschränkt. Auch im Klinikum Augsburg zeige sich dieser Trend ganz deutlich.
Die Anzahl an Mandel-OPs geht deutlich zurück
Insbesondere in den letzten drei Jahren sei die Anzahl der Mandelentfernungen nochmals deutlich rückläufig. Aus gutem Grund, denn: Auch „bei der besten Technik, die man machen kann“, stellen Nachblutungen und andere Komplikationen ein Risiko dar, so Zenk. Selten könne es sogar zu Todesfällen kommen.
Man müsse stets abwägen, ob der Eingriff den Patienten auf Dauer nützt, und den Einzelfall genau betrachten, so Zenk. Nicht bei jeder Mandelentzündung muss sofort operiert werden, selbst eine Antibiotikabehandlung ist häufig nicht notwendig, heißt es, da oft eine virale Entzündung mit Halsschmerzen vorliegt. Mehrere Fachgesellschaften haben sich auf neue Therapie-Empfehlungen verständigt, die diesbezüglich für mehr Klarheit sorgen sollen. Die neue Leitlinie wurde unlängst auf der Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie (DGHNO KHC) diskutiert und vorgestellt.
Demnach erkrankt jedes Kind im Verlauf der ersten Lebensjahre mehrfach an Entzündungen von Rachen und Mandeln. Für den Körper ist es eine normale Abwehrreaktion: „Die Mandeln haben die Eigenschaft, sich mit der Umwelt auseinanderzusetzen, sie prägen das Immunsystem“, sagt Zenk dazu. Junge Erwachsene hätten ebenfalls des Öfteren eitrige Mandeln und darauf habe man früher schnell und heftig reagiert. Inzwischen jedoch sei man zurückhaltender geworden. „Man hat gesehen, dass es nicht sinnvoll ist, schon nach der zweiten Mandelentzündung die Mandeln herauszunehmen“, sagt Zenk. Zumal das Nachblutungsrisiko bei Erwachsenen noch höher sei als bei Kindern.
„Die Tonsillitis ist eine der häufigsten Anlässe für den Arztbesuch und Mandeloperationen gehören zu den 20 häufigsten Anlässen für Krankenhausbehandlungen in Deutschland“, erläutert Professor Jochen Windfuhr, Chefarzt in Mönchengladbach, der als Vertreter der DGHNO KHC die Leitlinie „Therapie entzündlicher Erkrankungen der Gaumenmandeln“ maßgeblich mitentwickelt hat. Beteiligt waren der Deutsche Berufsverband der Hals-Nasen-Ohren-Ärzte, die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin und die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie.
Eine Mandelentzündung wird meist durch Viren ausgelöst
Ein erklärtes Ziel der Leitlinie ist es, Diagnose und Behandlung der Tonsillitis zu vereinheitlichen. „Die akute Tonsillitis wird zu 70 bis 95 Prozent der Fälle durch Viren ausgelöst“, so Windfuhr. „Antibiotika sind dann wirkungslos, sie können nur bei Entzündungen durch Bakterien helfen.“ Wann dies der Fall ist, kann der Arzt allein durch einen Blick in den Rachen nicht immer sicher entscheiden, die Leitlinie stellt zwei altersabhängige Punktesysteme vor. Diese bewerten neben der Schwellung der Mandeln auch Fieber, Husten und Lymphknotenschwellung mit Punkten. Erst ab einem bestimmten Punktewert wird ein Antibiotikum empfohlen.
Nicht jede schwere Mandelentzündung macht eine Operation nötig. Die Entscheidungsgrundlage ist die Zahl von Halsschmerz-Episoden in den letzten zwölf Monaten. Bei weniger als drei Episoden rät die Leitlinie von einer Operation ab. Bei drei bis fünf Episoden „kann“ die Tonsillektomie durchgeführt werden, bei sechs oder mehr Episoden ist sie „eine therapeutische Option“. „Bei mehrfach wiederkehrenden Mandelentzündungen hat sich die Mandelentfernung bewährt“, meint Windfuhr. Sie sei aber keine Notoperation. „Nur in besonders schweren Fällen sollte die Operation zügig erfolgen, bei moderaten und milden Formen raten wir dazu, zunächst ein halbes Jahr abzuwarten. Nur wenn sich in dieser Wartezeit weitere Entzündungen trotz wiederholter antibiotischer Therapie ereignen, ist die Mandelentfernung der bessere Weg.“
Man müsse sich aber immer auch nach dem individuellen Patienten richten, sagt Zenk. Die Leitlinie sei ja kein Gesetz. „Wenn er zum Beispiel binnen zwei Monaten drei bis vier Mal Antibiotika benötigt hat, dann macht es Sinn, mit ihm zu sprechen“ – und gemeinsam mit ihm Nutzen und Risiko eines Eingriffs abzuwägen. Bei mehr als sechs eitrigen Mandelentzündungen pro Jahr sollten die Mandeln raus, „weil es dem Patienten wirklich was bringt“. Schließlich bedeute jede eitrige Mandelentzündung nicht nur einen Arbeitsausfall, sondern auch eine große Belastung für den Körper. Eine unbehandelte Tonsillitis könne gefährlich werden und zu Komplikationen oder zu Schäden an Nieren und Herz führen, erläutert Zenk.
Teilentfernung der Mandeln ebenfall möglich
Und dann ist da noch die Mandel-verkleinerung oder -„kappung“. Sind die Mandeln, wie es besonders bei kleinen Kindern zwischen drei und fünf Jahren vorkommt, stark vergrößert, müssen bei einer eventuellen Operation nicht die ganzen Mandeln entfernt werden. Eine Teilentfernung, Tonsillotomie genannt, ist eine Option, die auch in der Leitlinie erstmals empfohlen wird. Sie hat sich laut Windfuhr in schwedischen Studien bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen bewährt. „Die Tonsillotomie ist für die Patienten sehr viel weniger belastend. Anfängliche Bedenken, dass in den Mandelresten Entzündungskomplikationen programmiert sind, haben sich nicht bestätigt“, erklärt er.
Seien Mandeln bei Kindern stark vergrößert, führe dies oft zu Ohrproblemen, Leistungsminderung, Schlafstörungen mit Schnarchen oder gar zu Atemaussetzern im Schlaf – mit der Folge, dass die Kinder tagsüber schlapp und müde seien, sagt Zenk. Hier könne die Mandelverkleinerung helfen: Die Kinder bekämen dadurch wieder deutlich besser Luft, zudem sei die Nachblutungsrate wesentlich niedriger als bei der Tonsillektomie, also der kompletten Mandelentfernung. Ob man bei Kindern eine Tonsillotomie auch bei häufigen bakteriellen Entzündungen einer kompletten Mandelentfernung vorzieht, muss im Einzelfall mit den Eltern entschieden werden.
Alles in allem dürfe man nicht nur die Gefahren des Eingriffes sehen: „Viele Eltern kommen danach und sagen, super, jetzt geht es meinem Kind wieder richtig gut." Auch das ist eine von Zenks Erfahrungen.
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