Eingepfercht im Güterwaggon geht die Reise ins Wittelsbacher Land
Rupert Reitberger hat die Geschichte der Heimatvertriebenen, die in Igenhausen daheim sind, erforscht
Nur zehn Minuten Zeit hatte die Familie von Johann Wawreztka im Juli 1945, um ihr Haus in Troppau in Mährisch-Schlesien (Tschechien) zu verlassen. Bei dieser „wilden Vertreibung“ durften sie nur etwas Handgepäck und was sie am Leibe trugen mitnehmen. 24 Tage waren sie im offenen Viehwaggon unterwegs Richtung Deutschland. 1950 kamen sie nach Igenhausen (Gemeinde Hollenbach), wo sie heimisch wurden. Das ist eine von vielen Geschichten, die Rupert Reitberger über die Vertriebenen in seiner Heimatgemeinde recherchierte. Der 76-jährige Igenhausener hat dafür mit vielen Zeitzeugen gesprochen und einige Reisen in deren alte Heimat unternommen. Mit Vertriebenen kam Reitberger schon als Kind in Berührung. „Die Kontakte zu den Gleichaltrigen der aus ihrer Heimat vertriebenen Familien waren für mich und meine beiden Brüder völlig unbelastet von manchen Vorurteilen der Erwachsenen“, erinnert sich der 76-Jährige. Als er 1947 mit Geschwistern und Eltern aus Lengenwang im Allgäu nach Igenhausen zu den Großeltern zog, war dort bereits Emma Fitz mit ihren beiden Kindern einquartiert. „Ich bin im Nachhinein erstaunt, wie problemlos wir alle zusammengewohnt haben“, sagt Reitberger. 13 Menschen lebten in dem Haus, sechs davon Kinder. Nicht überall waren die Heimatvertriebenen willkommen. Reitberger erinnert sich, dass manche den Fußboden aus den Zimmern gerissen hatten, damit sie nicht bewohnbar waren. Andere stellten einen großen Schrank vor die Zimmertür, um den Raum dahinter zu verstecken. Mit den Heimatvertriebenen sei auch eine neue Koch- und Backkultur nach Igenhausen gekommen, erzählt der 76-Jährige. „Kaum jemand kannte bis dahin Mohnstrudel oder Mohnknödel.“ Aber auch Serviettenknödel, Buchteln oder Kolatschen waren damals etwas völlig Neues im bayerischen Igenhausen. Zwischen den Kindern fanden regelrechte Tauschaktionen statt. „Gibst du mir deinen Mohnknödel, kriegst du mein Pausenbutterbrot“, erinnert sich der Hollenbacher lachend. Wie aber kam er dazu, sich so genau mit der Geschichte der Heimatvertriebenen von Igenhausen auseinanderzusetzen? Als sich Reitberger, der lange Jahre Hollenbachs Bürgermeister war, für den Arbeitskreis Geschichte, Bildung und Kultur interessierte, der sich im Rahmen der Dorferneuerung in der Gemeinde Hollenbach gebildet hatte, ahnte Reitberger noch nicht, wie sich alles entwickeln würde. Er hatte vor, für den Arbeitskreis die Geschichte der Volksschule Igenhausen zu erkunden. Um die an der Schule tätigen Lehrer ausfindig zu machen, sah er die Unterlagen des Einwohnermeldewesens der ehemals selbstständigen Gemeinde Igenhausen durch. Dabei stieß er auf die Heimatvertriebenen, die in der Gemeinde eine neue Heimat gefunden hatten. „Ich stellte fest, dass diese Völkerwanderung ein wichtiger Teil der Dorfgeschichte ist.“ Reitberger stellte das Schulprojekt zurück und befasste sich stattdessen mit den Vertriebenen. Ein Thema, das ihm schon deshalb am Herzen lag, weil er auch als jugendlicher Musikant viel Kontakt mit Heimatvertriebenen gehabt hatte. „Mein erster Musiklehrer, der mich an die Geige heranführte, war Eduard Marecek, ein ehemaliger Prager und Brünner Opernmusiker, der 1946 vertrieben wurde.“ Als Musiker – 26 Jahre lang leitete er das Orchester – lernte Reitberger viele Heimatvertriebene kennen und führte Gespräche mit ihnen über ihre Herkunft. In den 1970er-Jahren reiste er in die damalige Tschechoslowakei und besuchte einige Orte, aus denen die vertriebenen Musiker stammten. Dieser Musik widmete Reitberger, der seit gut 20 Jahren den Landfrauenchor Aichach-Friedberg leitet, einen Teil des Adventssingens in der Inchenhofener Wallfahrtskirche St. Leonhard. Mit ihr gestaltete er auch mit dem Kirchenchor St. Michael, den er seit mehr als 40 Jahren leitet, einen Weihnachtsfestgottesdienst in Igenhausen. Ganz gezielt suchte der Hollenbacher das Gespräch mit den ehemaligen Heimatvertriebenen, als er für das Projekt des Arbeitskreises, das als Heimatbuch der Gemeinde erscheinen soll, zu recherchieren begann. Einige Sudetendeutsche waren zusammengepfercht in Güterwaggons nach Bayern gelangt, waren zur Entlausung in das ehemalige Konzentrationslager Dachau gekommen und dann als Zwischenstation im Schloss in Kühbach einquartiert worden. Dort sei ihre Truhe, die im Gang stand, von anderen Heimatvertriebenen aufgebrochen und für sie persönlich wertvolle Gegenstände gestohlen worden, erzählte Olga Burek. Sie war 14 Jahre alt, als sie Glöckelberg im Sudetenland verlassen musste. Die Familie von Jörg Burek war vor den anrückenden Russen geflohen. Über Prag, Hof, Regensburg und Ingolstadt kam sie nach Aichach. „Am Bahnhof warteten die Bauern mit Fuhrwerken auf die Flüchtlinge, um sie in Empfang zu nehmen“, hatte Burek Reitberger erzählt. Magdalena Heise, eine gelernte Schneiderin, hatte es geschafft, ihre Nähmaschine bei der Ausreise mitzunehmen. Ein Kontrolleur hatte sich bei der Gepäckkontrolle erweichen lassen und sie ihr gelassen. „Diese Nähmaschine war hier die Grundlage ihrer beruflichen Existenz“, erzählt Reitberger. Die Gespräche waren für die Heimatvertriebenen nicht immer einfach. „Manche wollten am Anfang gar nicht darüber reden“, sagt der 76-Jährige. Viele, die nach der Öffnung der Grenzen in die alte Heimat fuhren, seien von der Verwahrlosung und dem heruntergekommenen Zustand so entsetzt gewesen, dass sie nie wiederkommen wollten, hat Reitberger immer wieder zu hören bekommen. Ihn hat es gepackt. Er will noch weiterrecherchieren.
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