
„Es gibt den perfekten Mord, weil er nicht erkannt wird“


Prof. Wolfgang Eisenmenger leitete lange Zeit die Rechtsmedizin in München und hatte rund 20.000 Leichen auf dem Seziertisch. Er sagt im Interview: Viele Verbrechen werden nicht erkannt.
Er hatte sie alle auf dem Seziertisch: den früheren CSU-Politiker Franz Josef Strauß, Modedesigner Rudolph Moshammer oder Schauspieler Walter Sedlmayr. Der frühere Leiter der Rechtsmedizin in München, Prof. Dr. Wolfgang Eisenmenger, erstellte auch DNA-Analysen von NS-Reichsleiter Martin Bormann und dem angeblichen Prinzen von Baden, Kaspar Hauser. Nach schätzungsweisen 20.000 Leichen war Schluss für den Rechtsmediziner: Seit 2009 befindet sich Eisenmenger im Ruhestand. Dem Institut der Uni steht er aber nach wie vor zur Verfügung.
Die Möglichkeiten der Rechtsmedizin sind immens gewachsen. Trotzdem wird heute einer Studie zufolge die Hälfte aller Morde nicht aufgeklärt. Woran liegt’s?
Prof. Wolfgang Eisenmenger: Nach meiner Meinung beginnt die ganze Problematik mit der gesetzlichen Regelung der Leichenschau. Es muss grundsätzlich ein Verdacht bestehen. Und der kann nur dann entstehen, wenn der tote Körper mit ausreichender Aufmerksamkeit untersucht und auch die Vorgeschichte miteinbezogen wird. Betrachtet man die Leichenschau in der heutigen Regelung, dann ist jeder Arzt berechtigt, sie vorzunehmen. Wenn ein Arzt darum gebeten wird, dann ist er auch dazu verpflichtet. Der Aufwand, der dabei betrieben wird, ist allerdings nach unserer Erfahrung denkbar gering. Es geht schon los damit, dass Tote nicht entkleidet werden. Da wird dann von der Türschwelle ein Blick auf den Toten geworfen und dann ein Leichenschauschein ausgestellt.
Ärzte müssten also aufmerksamer sein?
Eisenmenger: So ist es. Das betrifft nicht nur die breite Praxis bei allgemeinen Todesfällen. Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt, dass auch und gerade in Altenheimen und Krankenhäusern genauer hingeschaut werden müsste.
Warum?
Eisenmenger: In Delmenhorst und Oldenburg gab es zum Beispiel eine Mordserie. Jetzt kam nach und nach heraus, dass ein Pfleger über 100 Menschen auf dem Gewissen haben soll. Im Allgäu nahmen wir nach dem Wirken eines Pflegers Exhumierungen vor. Insgesamt 42 Leichen mussten wir ausgraben. In 29 Fällen konnten wir den Nachweis führen, dass die Verstorbenen medikamentös getötet worden waren. Das sind keine Einzelfälle. Wenn das Morden schon in Krankenhäusern und Altenheimen problemlos möglich ist, dann ist auch im normalen Lebensumfeld zu erwarten, dass eine größere Zahl von Tötungsdelikten nicht erkannt wird.
Gibt es denn das perfekte Verbrechen?
Eisenmenger: Das gibt es zweifellos. Der perfekte Mord ist ja deshalb perfekt, weil er nicht erkannt wird. Die Dunkelziffer ist schwer einzuschätzen. Wenn man eine große Zahl von Sektionen durchführt, wird man zwangsläufig immer wieder Fälle aufdecken, die früher als natürliche Todesfälle gelaufen sind. Die Sektionszahlen in Deutschland sind aber insgesamt stark rückläufig.
Woran liegt das?
Eisenmenger: Diskutiert wird immer wieder, ob zu viel gespart wird. Ich kann von den Münchner Verhältnisse nur sagen: In München und Südbayern ist es meiner Einsicht nach nicht so. Die Münchner Staatsanwaltschaft ist sehr sektionsfreudig. Wir haben über 2000 Sektion pro Jahr für Südbayern. Ein Assistent, der Fortbildungsveranstaltungen für die Landesärztekammer zum Thema Leichenschau macht, berichtete mir, dass es häufiger Fälle gibt, bei denen Ärzte von Polizisten unter Druck gesetzt worden seien: Sie mögen doch einen natürlichen Tod attestieren, schließlich sei doch dahinter kein Verbrechen zu vermuten.
Apropos Druck: Früher mussten die mutmaßlichen Täter immer wieder – vor ihrer Verurteilung – der Sektion beiwohnen. Was wollte die Justiz damit bezwecken?
Eisenmenger: Ich habe eine einzige ähnliche Situation in den frühen 1970er-Jahren erlebt. Damals wurde ein mutmaßlicher Täter zur Leiche seiner Frau geführt. Er wurde gebeten, sie zu identifizieren. Die Ermittler hielten ihn für den Mörder. Sie dachten: Wenn er mit dem Körper konfrontiert wird, der schon etwas in der Verwesung überging, dann wird er ein Geständnis ablegen. Das war dann nicht der Fall. Ein anderes Mal, es war wohl um 1970, habe ich in Südbaden einen weiteren ähnlichen Fall erlebt. Es ging um einen Verkehrsunfall mit Fahrerflucht. Ein Schweizer hatte nachts in Deutschland einen Fußgänger totgefahren. Wegen der schweren Beschädigungen an seinem Fahrzeug wurde er an der Grenze festgehalten. Er sprach von einem Wildunfall. Der Ermittlungsrichter wollte dann, dass der Mann seine Behauptung am Sektionstisch wiederholt. Das alles erinnert etwas an urtümliche juristische Verhaltensweisen. Im Mittelalter hieß es: Wenn ein Verdächtiger gefunden ist, dann führe man ihn zur Bahre, dann beginnen die Wunden wieder zu bluten. (mcz)
Zum Nachlesen:
Interview mit der Polizei:
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