Anfang Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa. Entfesselt vom Deutschen Reich, hatte er binnen sechs Jahren weltweit rund 60 Millionen Menschenleben gefordert. Die Redaktion der Augsburger Allgemeinen Land und der Schwabmünchner Allgemeinen arbeitet zum Kriegsende vor 80 Jahren noch einmal die Erinnerungen der letzten Zeitzeugen auf. Josef Kühn, der heute in Dinkelscherben lebt, war damals neun Jahre alt und erzählt von der Flucht mit seiner Familie.
Wir sind aus Ritschka. Das lag im Kreis Grulich und Senftenberg im Sudetenland. 1946 im Sommer hat sich alles zugetragen. Schon bevor wir endültig vertrieben wurden, mussten wir während des Krieges unser Zuhause verlassen. Als die deutschen Soldaten zurück flüchteten, kamen die Russen. Zu dieser Zeit weiß ich von zwei einschlägigen Erlebnissen. Zum einen sehe ich meine Mutter auf dem Platz vor dem Haus kniend beten, vor Angst. Wir sind von den Tschechen nach Schlesien vertrieben worden. Da sind wir wieder nachts heimlich zurück. Und die haben uns gleich wieder zusammen getrieben und wieder vertrieben. So ging das Hin und Her. Das war schon nach dem Krieg mit meiner Mutter. Wir waren fünf Kinder und meine Großmutter war auch dabei.
Ein Fuhrwerk mit vielen Toten fuhr am Haus vorbei
Die war damals ungefähr 50. Als die Tschechen bei uns vorbeikamen, wurde ein Fuhrwagen mit 30 Toten zugedeckt. Lauter Erschlagene und Erschossene. Soldaten waren bei uns im Ort. Das war Fußvolk, also ohne Panzer. Ein Soldat der russischen Armee stand bei uns in der Haustür, und ich war in seiner Nähe. Da strich er mir über die Haare und sagt: „Daheim habe ich auch so einen Burschen wie dich.“ Der hat Deutsch gesprochen.

Schlussendlich sind wir im Sommer 1946 auf Lastwagen geladen und weggefahren worden. Wir waren zwei Monate auf einem Lagerplatz in Grulich, von dort konnte man zum Kloster Muttergottesberg, einem Wallfahrtsort, hinauf sehen. Und da waren viele Gebete hinauf geschickt worden. Es waren bestimmt zwei- oder 300 Leute in diesem Lager. Von da aus sind wir in Viehwagen nach Thüringen gefahren worden. Da wurden wir entlaust. Von da aus ging es weiter nach Heuthen in Thüringen. Da haben wir in einer Zigarrenfabrik eine Wohnung bekommen, ein ehemaliges Büro wahrscheinlich. Der Winter von 1946 auf 47 war sehr kalt. Dieser Raum hatte nur Bretterverkleidung. Betten hatten wir vermutlich von den Anwohnern bekommen. Die Bettdecken und die Wände waren im Winter mit Eiskristallen übersät.
Nach der Vertreibung wurde Josef Kühn in Thüringen eingeschult
Wir sind in dem Ort eingeschult worden. Mein Vater war in englischer Gefangenschaft, und er wurde sehr früh entlassen. In Bad Salzungen hat er meine Großmutter und mich schwarz über die Grenze nach Hessen geholt. Die anderen sind dann in der Familienzusammenführung nachgekommen. Im Ort sind wir gut aufgenommen worden. Wir haben so weit wie möglich bei den Bauern geholfen und sie haben uns dann auch gut verpflegt.
Das andere Erlebnis ist, dass die Russen ein junges Mädchen im Schlafzimmer vergewaltigt haben. Und so etwas bekommt man als Neunjähriger mit. Das ist nicht sehr erbauend. Mein Vater war bis Kriegsende im Krieg. Er war in Russland und in Frankreich. Wurde dreimal verwundet, mit Schulterschuss und Handverletzung. Ich war nicht besonders ergriffen, ihn wiederzusehen. Es war halt so. Nach allen anderen Erlebnissen stumpft man ab. Vom Kriegsende habe ich nichts mitbekommen. Später habe ich nachgelesen, dass Hitler sich das Leben genommen hat.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden