Frau Steber, in wenigen Wochen ist es 80 Jahre her, dass der Zweite Weltkrieg endete, in Deutschland ist der Gedenktag am 8. Mai. In einer Serie der Redaktion der Schwabmünchner Allgemeinen und der Augsburger Allgemeinen Land erzählen uns nun schon seit einigen Wochen Zeitzeugen von ihren Erlebnissen einer Kindheit in Krieg und Nachkriegszeit. Können uns diese Menschen noch etwas Neues berichten?
MARTINA STEBER: Sehr viel. So erstaunlich es klingt, aber die Forschung zum Kriegsende ist noch gar nicht so alt, wir kennen zwar die wichtigen Marksteine, aber doch gibt es noch erstaunliche Lücken, vor allem wenn es um die individuelle Geschichte von einzelnen Gemeinden, Städten und Regionen geht. Für Bayerisch-Schwaben war die Tagung der Bezirksheimatpflege für Schwaben im Kloster Irsee ein wichtiger Impuls. Das Kriegsende war ein Moment des Umbruchs, der sich tief in das persönliche und auch das kollektive Gedächtnis unserer Gesellschaft eingegraben hat.
Von diesem Moment berichten auch fast alle Zeitzeugen, die mit uns gesprochen haben. Einmal ging es um Kinder, die allein zu Hause waren, als die ersten Amerikaner ins Haus kamen und nach versteckten Männern fragten. Ein anderer Zeitzeuge beschreibt, wie ein Kaufmann aus dem Dorf zu den Amerikanern ging und mit ihnen verhandelt hat, damit das Dorf nicht zerstört wird. Er garantierte mit seinem Leben, dass es keinen Widerstand geben würde. Eine andere Zeitzeugin berichtete, wie ihre Eltern einen jungen Soldaten versteckten und ihm Zivilkleidung gaben.
STEBER: Die Erinnerungen zeigen, wie gefährlich dieser Moment war. Das Vordringen der französischen und amerikanischen Truppen in der Region stellte die Gesellschaften in den Städten und Gemeinden vor eine Zerreißprobe: Da waren die einen, die bis zum letzten durchhalten und den Nationalsozialismus verteidigen wollten, da waren die anderen, die auf eine möglichst friedliche Beilegung der Konflikte drangen und angesichts der tödlichen Radikalität des Regimes in der Endphase ihr Leben riskierten. Über diesen Moment hinaus versteht die Geschichtswissenschaft das „Kriegsende“ als längere Phase des Übergangs. Mit dem Mai 1945 war der Krieg zwar vorbei, aber seine Folgen blieben im Alltag sehr lange spürbar. Gerade in ländlichen Gegenden, in denen es in Kriegszeiten oft recht ruhig war und die Versorgungslage ohnehin aufgrund der Ausbeutungspolitik des Regimes im „Altreich“ relativ stabil, folgten erst anschließend Hungerzeiten. Dazu kam, dass Millionen von Vertriebenen aus Ostmittel- und Osteuropa, die vor der Roten Armee fliehen mussten, aufgenommen werden mussten. Die Zeitgeschichtsforschung untersucht also ein „langes“ Kriegsende zwischen der Niederlage von Stalingrad im Frühjahr 1943 und der Währungsreform 1948.
Gerade aus den Jahren nach 1945 haben Zeitzeugen noch viel zu berichten. Es geht um die Einquartierung von Flüchtlingen, um den Vater, der Bürgermeister war und diese Menschen, auch gegen Widerstände, verteilen musste oder um Menschen aus der Stadt, die aufs Land kamen und sich mit Lebensmitteln versorgen wollten.
MARTINA STEBER: Was da erzählt wird, zeigt die Konflikte der Zeit, unter anderem einen starken Stadt-Land-Gegensatz. Auf dem Land konnte man sich selbst versorgen, in der Stadt ging das oftmals nicht. Da war man auf die Unterstützung der Landbevölkerung angewiesen, doch diese lehnte das oft ab. Erst mit der Währungsreform 1948 wurde die Versorgungslage besser, die Schwarzmärkte wurden trockengelegt. Für einige Geflüchtete dauerte es bis in die 1950er Jahre, bis sie sich ihr eigenes Leben aufbauen konnten. Man kann sagen, für unterschiedliche Gruppen endete der Zweite Weltkrieg zu unterschiedlichen Zeiten. Interessant finde ich auch, worüber in den Berichten nicht erzählt wird: über die Internierung von nationalsozialistischen Amtsträgern, über Zwangsarbeiter und Konzentrationslagerhäftlinge, die zum Alltag der nationalsozialistischen Gesellschaft gehört hatten und nach der Befreiung als Displaced Persons (DPs) weiterhin präsent waren, oder über die Spannungen, welche die Entnazifizierung hervorrief.
Immer wieder geht es in den Zeitzeugenberichten auch darum, dass der Vater, der aus der Kriegsgefangenschaft heimkam, für kleine Kinder ein Fremder war. Oder um den Vater, der sich immer wieder mit anderen Männern traf, um über Kriegserlebnisse zu sprechen.
Da geht es um die Traumata des Krieges, die zum Teil bis heute nachwirken und die von der Gesellschaft und den Einzelnen bewältigt werden mussten. Jede Familie hat eine Geschichte aus dieser Zeit zu erzählen. Die historische Forschung bringt sie in einen größeren Zusammenhang, ordnet sie ein. So können die Erlebnisse in der eigenen Familie besser verstanden werden.
Aber sind denn Zeitzeugenberichte nach 80 Jahren noch eine zuverlässige Quelle?
STEBER: Die Zeitgeschichtsforschung hat Methoden, um sichere Erkenntnisse aus den Berichten von Zeitzeugen zu gewinnen. Zudem haben wir in staatlichen, kommunalen und privaten Archiven noch Berge von schriftlichen Quellen, die nicht ausgewertet sind, vor allem für die lokale und regionale Ebene. Am besten ist es, wenn man diese Quellen mit Zeitzeugenberichten kombinieren kann, um sie dann in Verbindung zu den „großen“ Entwicklungen in Politik, Gesellschaft und Kultur zu setzen. So kann die Geschichtswissenschaft immer neue Fragen an die Geschichte stellen und neue Erkenntnisse gewinnen.
Martina Steber, Jahrgang 1976, ist Stellvertretende Direktorin des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin und Professorin für Neueste Geschichte an der Universität Augsburg.

Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden