
New York als Märchen


"If you see something, say something" - wenn du etwas siehst, dann sag etwas; wenn dir etwas auffällt, dann sag Bescheid. Das war in New York eine nach dem Terroranschlag vom 11. September 2001 öffentlich verbreitete Lösung, die die Menschen auf Wachsamkeit verpflichten sollte. Die schwäbisch-italienische Künstlerin Nina Pettinato hat die Aufforderung als Titel für eine Fotoserie hergenommen, das Ergebnis ihres eigenen New-York-Aufenthalts.
Drei Sommermonate lang konnte die 35-Jährige aus Oettingen, die vergangenes Jahr den Kunstpreis des Bezirks Schwaben gewonnen hat, am Hudson verbringen. Bei ihren Streifzügen durch die Stadt begegnete ihr der Wachsamkeitsslogan oft. Nina Pettinato nahm ihn als Motto auf und münzte ihn auf ihre eigene Art um. "If you see something, say something" - das heißt für sie, genau hinzuschauen, auch auf Nebensächliches, Abwegiges, fast Unsichtbares. Das heißt, das Wahrgenommene festzuhalten, herauszuschälen aus dem Wust der optischen Reize, es fotografisch gleichsam zu benennen. Und für den Betrachter könnte die Aufforderung bedeuten: "Schau mal, was du entdeckst in meinen Bildern, und dann erzähl mir die Geschichte, die dir dazu einfällt."
Zu entdecken sind in den klein- und mittelformatigen Fotoarbeiten von Nina Pettinato - zurzeit in der Neuen Galerie im Höhmannhaus - kleine Ausschnitte einer Welt, die so gar nichts mit dem bekannten Bild der pulsierenden Metropole New York zu tun haben. Eine efeubewachsene Hauswand, ein Platz, der auch in Istanbul liegen könnte, der Durchblick durch ein gläsernes Dach auf Äste und Blätter eines Baumes, ein Mauerschacht zwischen zwei Häusern, ein Schulhof mit Ball spielenden Kindern, ein Stück Pflaster.
Das ist eine stille, alltägliche Welt, die in den dunklen Tönen der Schwarz-Weiß-Fotografien einen Eindruck von Selbstgenügsamkeit und Abgeschiedenheit vermittelt. Und gerade dadurch haben die Bilder auch etwas Großstädtisches, denn in so einer Riesenstadt lebt man in seinem Viertel, kennt da die lauschigen Ecken, die ein bisschen Grün und Ruhe zum Luftholen bieten, in die man sich aus dem lauten Getriebe zurückziehen kann.
Solche Fluchtpunkte hat Nina Pettinato, die mit einem entdeckungsfreudigen Blick durch die Stadt zog, in New York zuhauf gefunden. Beim Betrachten der Bilder kommt es einem so vor, als habe sie sich, die Kamera in der Hand, leise und behutsam in sie eingeschlichen.
Geheimnisse hat sie in die Stadt hineinfotografiert
Doch Nina Pettinatos New York ist auch ein romantischer, fast märchenhafter Ort. Da leuchten die Lämpchen an einem alten Kinderkarussell und die Pflanzen in einem Gewächshaus, da wuchern die Äste eines alten Baumes, und die in die Rinde geritzten Buchstabenkürzel erzählen von verschwiegenen Liebesgeschichten. Da türmen sich Schatten überm Dach und über eine Hauswand strömt das Wasser. Geheimnisse hat die Künstlerin quasi hineinfotografiert ins Weichbild der Stadt. Indem sie ein bestimmtes Detail in den Fokus nimmt, tritt sie eine Geschichte los.
Zum Beispiel die von dem Mann, der in der heißen Sommernacht die Tür zu seinem ärmlichen Appartement offen stehen lässt und nun wie in einer hell erleuchteten Höhle im großen Dunkel sitzt. Oder die von der leer gequetschten Zahnpastatube, die sich passgenau in die Ritzen des Kopfsteinpflasters hineinschmiegt.
Erstaunlich, dass Nina Pettinato es mit einer ganz normalen Digitalkamera und ohne Nachbearbeitung schafft, so poetische Bilder zu (er)finden. If you see something, say something: kein Problem bei diesen Bildern. Man sieht viel auf ihnen, und man hat dann auch etwas zu erzählen.
Laufzeit bis 9. Januar 2011 in der Neuen Galerie im Höhmannhaus. Geöffnet Dienstag 10 - 20 Uhr, Mittwoch bis Sonntag 10 - 17 Uhr.
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