Augsburg
15.03.2017

Vom Albtraum erzählte keiner so wie er

Von Richard Mayr

Interview Der Augsburger Andreas Nohl arbeitet an einer Neuübersetzung der Werke von Edgar Allan Poe. Dabei spielt auch eine der rätselhaftesten literarischen Verbindungen des 19. Jahrhunderts eine Rolle

Die Neuübersetzung der Werke des amerikanischen Autors Edgar Allan Poe in der Zusammenstellung, die der französische Dichter Charles Baudelaire Mitte des 19. Jahrhunderts herausgegeben hat, war Ihre Idee. Warum ist diese Ausgabe wichtig?

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Andreas Nohl: Nun, es ist die Ausgabe, die Poes Weltruhm begründete – er ist ja dann erst über Europa auch wieder in den USA wahrgenommen worden –, und es ist die Ausgabe, mit der Baudelaire sich in Frankreich einen Namen machte, nämlich als Übersetzer von Poe. Es war also auch für ihn eine Art Durchbruch, es war seine erste Buchveröffentlichung. Ja, und man kann sagen, ohne stark zu übertreiben, dass mit dieser Ausgabe eine neue Epoche in der Weltliteratur beginnt.

Wie ist es Ihnen gelungen, einen Verlag davon zu überzeugen?

Nohl: Ja, das war wirklich nicht einfach. Die meisten Verlage, denen ich das Projekt vorgestellt habe, waren schon sehr fasziniert und fanden die Idee sensationell, aber keiner hat sich getraut, sich auf eine 5-bändige Ausgabe einzulassen. Da sehen Sie also schon, wie sich das Verlagsdenken in Deutschland und im deutschsprachigen Ausland gewandelt hat. Aber dann hatte ich eben das Glück, einen sehr engagierten jungen und neuen Klassiklektor bei dtv kennenzulernen, der sofort Feuer und Flamme war. Und die Verlagsspitze hat seinen Enthusiasmus nicht nur begriffen, sondern offenbar geteilt.

Wie setzt sich Ihre Übersetzung zum Beispiel von der von Hans Wollschläger oder aber Arno Schmidt ab?

Nohl: Schmidt und Wollschläger, aber es waren auch noch Friedrich Polakovicz und andere dabei, haben ihre Übersetzung Ende der 60er und Anfang der 70er Jahre vorgelegt. Ich habe mir damals als junger Autor die Ausgabe sofort gekauft und war einigermaßen verblüfft. Man bekam hier etwas relativ Radikales oder ungewohnt Provozierendes zu lesen, das aber mit Poe nicht sehr viel zu tun hatte. Um es kurz zu sagen: Sie haben Poe ein prätentiöses historisches Idiom schreiben lassen, so, als wenn Poe eher ein Autor des 18. oder gar 17. Jahrhunderts gewesen wäre. Das liest sich heute stellenweise ziemlich albern. Und ich muss sagen, man kann Poe nicht so ins Deutsche übersetzen, als ob es die stilistischen Errungenschaften Goethes noch nicht gegeben hätte. Das ist gegenüber Poe, aber auch gegenüber der deutschen Literatur, zu der eine Übersetzung am Ende ja gehört, schlichter Unfug.

Wie sind Sie also in Ihrer Übersetzung vorgegangen?

Nohl: Ich habe Poe eins zu eins, sozusagen philologisch korrekt, übersetzt, erlaube mir aber, gewisse Umständlichkeiten in seinen Formulierungen zu straffen, weil das Deutsche ja ohnehin umständlicher ist als das Englische. So kommt, hoffe ich zumindest, ein etwas modernerer und griffigerer Poe heraus. Übrigens habe ich bei den Satiren die vollkommen überdrehte Sprache Poes keineswegs domestiziert, sondern sie ganz Swift-ähnlich gelassen. Aber bei den Erzählungen schien es mir angebracht, nicht künstlich zu historisieren, sondern zurückhaltend zu modernisieren, ohne freilich vom Originaltext abzuweichen oder etwas zu unterschlagen.

Ihre Übersetzung führt an einen rätselhaften Punkt der Literaturgeschichte. Poe, früh gestorben, war in den USA gerade vergessen worden. Dann übersetzt ihn Baudelaire ins Französische und macht ihn dadurch zu dem Weltschriftsteller, als der Poe bis heute gilt. Was ist da genau passiert?

Nohl: Naja, Poe war, wie gesagt, in den USA verfemt und vergessen, und Baudelaire hat ihn in Paris 1847 entdeckt. Ich nenne dieses Zusammentreffen zweier Dichter und Schriftsteller immer eine literarische Kernfusion. Baudelaire sah sich von dem amerikanischen Dichter vorausgespiegelt, und er hat von Poe – vor allem von dessen Dichtungstheorie – außerordentlich profitiert. Es ist wirklich eine merkwürdige Symbiose, die hier zwei Dichter, die sich persönlich nicht kannten, eingegangen sind. Es hat etwas leicht Mystisches, muss ich sagen.

Warum wurde Poe in den USA vergessen?

Nohl: Weil er einem missgünstigen Mann namens Griswold seinen Nachlass anvertraut hatte. Poe war nie sonderlich geschickt in der Auswahl der Personen, mit denen er Umgang gepflegt hat. Und Griswold hatte dann nichts Eiligeres zu tun, als Poe übel zu beleumunden: als Trinker, als moralisch minderwertig und so weiter. Das hat Poes Rezeption im puritanischen Amerika damals, also an der Ostküste, das Genick gebrochen.

Was war denn neu am Werk Poes und warum passte das nicht in die Zeit?

Nohl: Ich weiß nicht, ob das nicht in die Zeit passte. Immerhin hatte Poe ja doch, bei allem finanziellen Elend, das ihn begleitete, zeitweise großen Erfolg. Neu war, kann man vielleicht sagen, dass er sich den dunklen Seiten der menschlichen Existenz zugewandt hat, den seelischen No-go-Areas. Sie kennen ja sicher das berühmte Bild von Goya mit dem Titel „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“, mit all den Eulen und Monsterfledermäusen. Diese albtraumhafte Welt finden wir bei Poe wieder, bei ihm im Kleid großer Erzählkunst. Und damit, meine ich, ist er als Schriftsteller eine Art Pionier in der Seelenerkundung der Menschen geworden.

Warum würden Sie sagen, dass Poe ein Begründer der Moderne ist?

Nohl: Das ergibt sich teilweise aus dem eben Gesagten. Aber das ist natürlich auch ein Klischee. Eigentlich, das heißt in einem strengen Sinn, steht Poe am Beginn der literarischen Moderne, weil er die klassische und normative Ästhetik, die über Jahrhunderte betrieben wurde, durch eine Theorie des Schaffensprozesses ersetzt hat, etwa in seinem genialen Aufsatz „Philosophy of Composition“, wo er Schritt für Schritt und vollkommen barrierefrei die Entstehung seines berühmten Gedichts „Der Rabe“ beschreibt. Einer der zentralen Texte der Moderne.

Und warum denken Sie, ist Poe bis heute modern?

Nohl: Ich glaube, das muss jeder für sich selbst entscheiden. Es sollen, das ist mein größter Wunsch, durch unsere Ausgabe vor allem auch junge Leser die Möglichkeit erhalten, darüber eine eigene und informierte Entscheidung zu fällen, ob Poe heute modern ist – und zwar ohne allzu viel übersetzerischen Ballast. Modern ist Poe, weil er Texte geschrieben hat, die bis heute nichts von ihrer Faszination verloren haben.

Ist Ihnen eine solche rätselhafte Verschränkung von Original und Übersetzung noch einmal bekannt in der Literaturgeschichte?

Nohl: Nein, auf diesem Niveau und in diesem Umfang nicht. Aber das Übersetzen ist für viele Schriftsteller eine Art Jungbrunnen. Denken Sie an Bölls Übersetzung von Salingers „Fänger im Roggen“, das hat Früchte dann in seinen „Ansichten eines Clowns“ getragen, oder an Enzensbergers Übersetzung der Gedichte von William Carlos Williams. Das ist für ernst zu nehmende Autoren immer befruchtend.

Welche Erzählungen von Poe sind Ihnen besonders wichtig?

Nohl: Schwer zu sagen, weil es so viele sind. Es ist wirklich unglaublich, wie verschieden und vielfältig diese Erzählungen sind – die Detektivgeschichten, die Seeabenteuer, die düsteren mesmeristischen Experimente, die Hass- und Rachenovellen, die Flugabenteuer, die Geschichten über Verfall und Tod, und, ja doch, jetzt fällt mir eine ein: „The Man of the Crowd“ (Der Mann der Menge), das ist eine der großartigsten Geschichten, die je geschrieben wurden. Sie wird im zweiten Band unserer Ausgabe stehen, weil Baudelaire sie in seinen zweiten Band aufgenommen hat. Interview: Richard Mayr

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