Als vor exakt 300 Jahren Johann Sebastian Bach seine zweite Fassung der Johannespassion in Leipzig uraufführte, da kam sie ebenso ins Gespräch – oder ins Gerede –, wie sie heute ins Gespräch – oder ins Gerede – gekommen ist. Der Anlass, damals und heute, lässt sich durchaus mit „correctness“ umschreiben. Seinerzeit, dies wird heute stark vermutet, irritierte die Herrschaft, dass Bach in seine Johannespassion auch eine Passage aus dem Matthäus-Evangelium integriert hatte – woraufhin dann der Komponist diese Passage über ein Erdbeben und das Zerreißen des Tempelvorhangs nach dem Tod Jesu in seiner dritten Fassung wieder eliminierte.
Heute indessen steht etwas anderes des Passionstextes in der Diskussion: Nachdem die Initiative Critical Classics bereits Mozarts „Zauberflöte“ hinsichtlich politischer Korrektheit mit Umformulierungsvorschlägen versehen hat, macht sie sich derzeit an eine beabsichtigt „diskriminierungsfreie“ Fassung der Johannespassion, gewiss ein noch heikleres Unterfangen. Ein wesentlicher Stein des Anstoßes: Dass darin die Juden in der Hauptsache „schreien“ bei der – im Übrigen auch musikalisch vehementen – Einforderung des Todes eines Menschen. Nicht weniger als der Vorwurf stereotyper Darstellung von Juden liegt auf dem Tisch – und dass deren Handlungen kaum ertragbar zu singen und zu hören seien. Auf der Gegenseite indes wird nun das Umschreiben des Bibeltexts für die Johannespassion befürchtet – und damit das Umschreiben von quasi Unumstößlichem. Zu fragen bleibt, ob die kritische Auseinandersetzung mit heute problematisch erachteter Passionsmusik-Passagen nicht besser in Programmheft und in Konzerteinführungen aufgehoben ist – als durch „Redigieren“ eines Textes von ganz eigener Geschichtlichkeit.
Der warme Klang des Barockorchesters La Banda
Von allen alten und neuen Korrektheiten unbeeindruckt erklang jetzt wünschenswert die 300 Jahre alte Johannespassion, zweite Fassung, in evangelisch Heilig Kreuz. Wünschenswert deshalb, weil sie dabei doch sehr, sehr viel Geschichtlichkeit atmete: Erstens und in klanglicher Hinsicht vor allem durch das (im Stehen spielende) Barockorchester La Banda mit seinen (nachgebauten) Originalinstrumenten und seiner historisch informierten Musizierpraxis auch auf Laute, Krummhorn, Violone und Viola da Gamba. Ein vornehmlich weicher, warmer, pastoral-holzgetönter Ton voller Einfühlsamkeit war die Folge.
Zweitens und in Hinsicht ihrer Ausdeutung durch die so ernsthafte wie kontemplative Gestimmtheit des leitenden Domkapellmeisters Stefan Steinemann, der natürlich unterschiedliche musikalische Ausbildungsstufen zusammenzubinden hatte und dabei im Sinne des Gesamteindrucks das rechte Maß, den nötigen Atem, die angemessene Forderung einsetzte.
Die Solopartien ware teils mit Knabenstimmen besetzt
Drittens und in Hinsicht auf die das ganze Unternehmen tragenden Domsingknaben durch deren ausbalancierte, homogene Choraufstellung – wesentlich insbesondere, was die reflektierenden Ruhepunkte in Bachs Partitur anbelangt. Eingesetzt waren der Kammerchor und die Präparanden der Domsingknaben, dazu mit unterschiedlich festen, unterschiedlich geläufigen, unterschiedlich tragenden Stimmen einige Knabensolisten, unter denen Ferdinand Lidl stärksten Eindruck hinterließ.
Ja, und viertens wirkten da auch zwei Solisten in weiß Gott zentralen Rollen mit: Zum einen Andreas Burkhart, der Arien und die Christusworte mit seinem beweglichen, klangvollen, friedvollen, in der Tiefe noch Prägnanz vertragenden Bariton ausführte. Zum anderen und vor allem Daniel Johannsen, der mit seinen Arien und seinem Evangelisten-Bericht die gesamte Aufführung ebenso zusammenhielt und prägte wie Stefan Steinemann vom Cembalo aus. Um es mit einem Wort und auch religiös angemessen zu sagen: Daniel Johannsen ist als Evangelist (und übrigens auch als Schubert-Interpret) eine Offenbarung. In gesanglicher Perspektive durch seinen strahlend-hellen, reinen und mühelosen Tenor, in textlicher Perspektive durch seine vorbildlich klare Diktion.
Gesang für höchstes ästhetisches Glück
Aber es gibt da noch ein Kriterium, gerade bei sakralen oder weltlichen Bekenntnismusiken: Die Überzeugungskraft, mit der eine Partie interpretiert wird. Auch diesbezüglich ist Johannsen das Ideal und einer unter hundert Sängern, die dies anstreben. Wie er in Melismen gleichsam fliegt, wie er Zerknirschung dramatisch darlegt, wie er in das Gesamtgeschehen hineinhorcht, es aufgreift und weitergibt, wie er mitgeht und mitreißt und sich im Schluss-Choral noch zum Chor gesellt, weil er stets das auch glaubt, was er singt: All das bedeutet – in einem grausamen Todesstück – höchstes ästhetisches Glück.
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