Der 1941 geborene Walther Seinsch erinnert sich an die ersten Nachkriegsjahre, in denen er in den Trümmern der Stadt gespielt hat. Eine schwierige Zeit sei das für alle gewesen, aber es habe Menschen gegeben, die auch da noch als Untermenschen gesehen wurden. „Es gab welche, die unter uns standen, das war im Alltag präsent. Mein Vater sagte oft ‚Du benimmst dich wie ein Zigeuner’ oder ‚du klaust wie ein Zigeuner’“. Seinsch fordert Aufklärung und Aufarbeitung der NS-Zeit. „Wir haben Massenverbrechen begangen, es ist unsere Pflicht, dies zu erforschen“, erklärt er bei der diesjährigen Verleihung des Marion-Samuel-Preises im Goldenen Saal des Augsburger Rathauses. Vor etwa 200 Gästen aus Politik, Gesellschaft und Kultur übergab er die Auszeichnung an die Journalistin, Autorin und frühere Redakteurin unserer Zeitung, Angela Bachmair.
Seinsch, der den Preis 1999 mit seiner Frau Ingrid ins Leben gerufen hatte, würdigte Bachmair für ihr Engagement in der Augsburger Erinnerungskultur. Vor allem aber für ihr Buch „Wir sind stolz, Zigeuner zu sein“, das erstmals 2014 und in diesem Jahr in zweiter Ausgabe erschien. Lange habe er nicht geglaubt, dass der Nationalsozialismus – in Anlehnung an ein Zitat KZ-Überlebenden Primo Levy – „wieder passieren kann“, so Seinsch. „Mit der Gründung der AfD jedoch sieht das jetzt allerdings anders aus.“ Menschen wie Bachmair, die über die Opfergruppen wie die der Sinti und Roma im Holocaust forschten seien unverzichtbar, um die Demokratie aufrecht zu erhalten.
Angela Bachmair ist eine treibende Kraft der Augsburger Erinnerungskultur
Die Laudatio hielt Benigna Schönhagen, bis 2018 Leiterin des Jüdischen Museums. Sie ordnete Engagement und Veröffentlichungen Bachmairs einem Zeitbogen zu, der über zwanzig Jahre zurückreichte. Durch ihre Zeitungsartikel und ihre Funktionen im Forum Interkulturelles Leben und Lernen (Fill), in der Jury des Wissenschaftspreises, in der Kommission für Erinnerungskultur, bei der Ausarbeitung des sogenannten Augsburger Wegs, der das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialimus mit Erinnerungsbändern und Stolpersteinen sichtbar macht – durch all diese beruflichen und ehrenamtlichen Tätigkeiten sei Bachmair in den letzten 20 Jahren zur treibenden Kraft und zu einem „Gesicht der Erinnerungskultur“ in Augsburg geworden. Hartnäckig, kommunikativ, aber immer im Hintergrund habe sie in der 2012 gegründeten Erinnerungswerkstatt auch bei Konflikten um diesen „Augsburger Weg“ zwischen den Fraktionen und verschiedenen Opfergruppen vermittelt.
Mit ihrem Buch über eine Nördlinger Sinti-Familie, die den Holocaust überlebte und aus verschiedenen KZs in die schwäbische Stadt zurückkehrte, habe sie nicht nur dieser Familie, sondern dem Gedenken der Morde an den Sinti und Roma ein persönliches, literarisches und dokumentarisches Denkmal gesetzt. „Das Buch hat ein jahrzehntelanges Schweigen in der Region beendet. Eine neue Generation von Sinti und Roma trat anschließend aus dem Schatten dieses Völkermords, gründete einen Regionalverband, formuliert Forderungen. 2017 erklärte der Oberbürgermeister von Augsburg erstmals: Ihr gehört zu uns“, fasst Schönhagen den Einfluss Bachmairs auch auf emanzipatorische Entwicklungen in der Region zusammen.
Die Ausgezeichnete hebt die Teamleistung hervor
Angela Bachmair selbst hebt die Teamleistungen in der Erinnerungswerkstatt hervor, lobt besonders die Schüler, die sich mit ihren Nachforschungen einbringen. Und sie warnt: „Wir dürfen uns nicht mit leeren Ritualen zufriedengeben, sondern müssen immer fragen, was dieses Gedenken mit uns zu tun hat. Damit sich der Rassismus nicht wieder einschleicht.“
Der Marion-Samuel-Preis wird seit 1999 von der Stiftung Erinnerung des Ehepaars Seinsch vergeben und ist mit 15 000 Euro dotiert. Er geht zurück auf das Schicksal der zwölfjährigen Jüdin Marion, die 1943 in Auschwitz ermordet wurde. Unter den Preisträgern war 2003 der Historiker Götz Aly, der ihre Biografie erstmals recherchierte und ihr sein Buch „Der Tunnel“ widmete.