Um Gustav Mahlers 2. Sinfonie weht der Hauch des Besonderen. Es gibt, und gerade bei Mahler, Sinfonien, die nicht weniger üppig besetzt sind als diese in c-moll, Werke, die ebenfalls Chor und Solistenstimmen erfordern und auch sonst in ihrer Dimensionierung fast maßlos erscheinen (die Dritte, die Achte von Mahler). Und doch ist es die Zweite, in die sich ein musikalischer Laie wie der vermögende US-Amerikaner Gilbert Kaplan einst derart verliebte, dass er die Partitur mit einer Inbrunst studierte, die ihn schließlich in die Lage versetzte, am Dirigentenpult namhafter Orchestern die Sinfonie öffentlich aufzuführen, immer nur sie, die Zweite von Mahler.
Natürlich gibt es auch handfeste musikalische Gründe für diese Sonderstellung. Das abendfüllende Werk ist Endpunkt des klassischen Sinfonie-Modells, wie es sich durchs 19. Jahrhundert hindurch entwickelt hatte, und zugleich Neuanfang. Der bis dahin bestimmende sinfonische Typus mit Themen-Dualismus, Durchführung, Reprise ist in Mahlers Zweiter nicht mehr formbestimmend; ebenso wenig aber schlägt sich Mahler auf die Seite der Programmmusik, die Stoffe oder Figuren vorwiegend literarischer Herkunft in orchestralem Gewand nachzeichnen. Mahler unternimmt mit seiner c-moll-Sinfonie Anderes: Metaphysische Spekulation – konkret: Tod und Auferstehung als Sinn menschlicher Existenz – wird zum strukturbildenden Prinzip, zur tönend bewegten Form.
Durch Nacht zum Licht mit Mahlers 2. Sinfonie
Eine Herausforderung, die Interpreten dieses Werks Enormes abverlangt. Gar nicht in dem Sinne, dass der rezipierende Hörer, beispielsweise, im Schlusssatz nun wirklich bildhaft die aufspringenden Gräber beim Jüngsten Gericht vor Augen gestellt bekommt. Viel wichtiger ist, dass überhaupt ein Sinnzusammenhang erfahrbar wird, im Falle der Zweiten ein konstitutionelles, musikalisch vermitteltes Durch-Nacht-zum-Licht. Domonkos Héja am Pult der Augsburger Philharmoniker gelang dies im Kongress am Park in überragender Weise.
Einen sinnstiftenden Bogen über eineinhalb Stunden hinweg zu spannen, ist für sich genommen schon eine Leistung. Bei Mahler kommt hinzu, dass ausgesprochen Disparates zusammenzubringen ist. Schon der erste Satz, die „Totenfeier“, gibt sich janusköpfig, schwer Lastendes, kondukthaft sich vorwärts Schleppendes trifft mit harter Kante auf Unbeschwertes. Doch was in anderen Händen zerfasern, auseinanderfallen würde, ist bei Héja nur immer ein weiterer Baustein, der die Neugier erhöht, zu welchem Gebäude sich das alles am Ende zusammenfügen werde. Und weil Héja auch kein ungeduldiges Tempo anschlägt, sind motivische Details und Mahlers Klangfindungen aufs Schönste ausformuliert. (Der vom Komponisten geforderten langen Pause nach Beendigung des ersten Satzes kommt freilich auch Héja nicht nach, immerhin macht er aus den von Mahler geforderten fünf Minuten zweieinhalb – andere sind da noch deutlich ungeduldiger).
Die Philharmoniker als Hundertschaft
Glänzend auch, wie Heja in den heiterer timbrierten beiden Folgesätzen die Brüchigkeit des Tanzbodens, auf dem sich die heimeligen Ländlerfiguren drehen, durchhörbar macht. Um dann alle Unbeschwertheit immer wieder als Hybris zu entlarven, die in erbarmungslosen Schlägen krachend niederfährt – die beiden Orchesterpaukisten leisten hier ein ums andere Mal präzise Schwerarbeit.
Ohne ein Orchester, das solch extreme Stimmungsumschwünge mitdenkt, mitfühlt und letztlich zu formen bereit ist, kann eine Mahler-Aufführung nicht gelingen. Doch die auf hundert Musikerinnen und Musiker aufgestockten Philharmoniker sind vom ersten Moment an wie entfesselt, und das nicht nur in den Apokalypsen, den tönenden Zorn- und Rachemomenten des mehr als halbstündigen Finalsatzes. Traumwandlerisch gelingt das Umschalten in den Mahlerschen Wunderhorn-Ton, ob er nun naturhaft keck (in den Holzbläsern vor allem) oder „eng(e)lisch“ samtschimmernd (Streicher) erklingt. Eine Spur weniger direkt, mystischer hätten lediglich die Passagen des Fernorchesters aus dem Vorraum des großen Saals hereinwehen können.
Herzensinnig: Mezzosopranistin Ekaterina Akeksandrova
Der Wucht des Orchestertuttis hat der aus Opern- und Philharmonischem Chor gebildete Gesamtchor genügend Substanz entgegenzusetzen, überzeugt aber auch beim leise-prägnanten „Aufersteh’n“-Einsatz. Setzt Jihyun Cecilia Lee hier im Schlusssatz sopranistische Lichtpunkte, so ist das vorherige „Urlicht“ ganz der tieferen Frauenstimme vorbehalten. Herzensinniger, mit herrlich blühender Kantilene, kann man das „Röschen rot“ nicht besingen als Mezzosopranistin Ekaterina Aleksandrova.
Ein Konzertabend, der auch im Saisonkalender der Augsburger Philharmoniker eine Sonderstellung einnehmen dürfte. Nach dem brausenden, alle Beteiligten vereinenden, auch noch die große Orgel inkludierenden Finale zehnminütiger Applaus, Bravos, standing ovations – seltene Zeichen der Überwältigung seitens des hiesigen Publikums. Zurecht rückt der Orchesterchef die Stimmführer wie die kompletten Register ins Rampenlicht, reicht seinen Blumenstrauß per passgenauem Wurf weiter an die famose 1. Trompeterin. Eine einzige Fehlentscheidung freilich leistet sich Domonkos Héja an diesem Montag Abend: Indem er selbst partout in der zweiten Reihe verbleibt, selbst nicht mehr den Fuß aufs Podest setzen will, um sich gebührend feiern zu lassen.