Die Nacht hat sich über die Stadt gelegt und auf der Bühne leuchten Die Sterne, Mitbegründer und Absolventen der legendären Hamburger Schule. Frank Spilker sieht inzwischen ein wenig aus wie der kleine Bruder von Helge Schneider, sein funky Indiepop ist gut gealtert, seine Aphorismen sind immer noch gehaltvoller als jeder in den letzten Monaten veröffentlichte Einzeiler auf X: Von allen Gedanken schätze ich am meisten die interessanten. Es ist irgendwie tröstlich, dass Spilker auch nach knapp 35 Jahren Die Sterne noch nicht die Lust verloren hat, seine Gedanken zu teilen.
Jenen von Blue Bendy zu folgen, ist nicht immer leicht, verpacken die Südlondoner ihre Gedanken in völlig abstrusen Bildern. Arthur Nolan singt mit britischer Nonchalance von Sodbrennen, Stress in Game-Chats und darüber, dass ihm irgendwer die Unterbuchse angezündet hat. Am Ende geht es darum, was gut ist und was böse, was Tugend ist und was Laster. Ihr stolpernder, sympathisch verstrahlter Indierock klingt dank der völlig unvorhersehbaren Songstrukturen manchmal, als würde eine Platte springen; Nolans blendende Laune und sein trotziger Hedonismus lassen die Ernsthaftigkeit der Texte vergessen. Ist ja auch ein Rockkonzert und keine Kirchenpredigt – erst kommt das Fressen, dann die Moral.
Musikalische Vielfalt in Augsburg: Die Sterne, Blue Bendy und Mats Gustafsson sorgen für Begeisterung
Die Brechtnacht zelebriert die Kompromisslosigkeit des Autors Bert Brecht und übersetzt sie in die Musik des Heute. Eine unansehnliche, verlassene Möbelhauskarkasse beherbergt ein Bühnendelta, auf dem ein breites Spektrum von Musikerinnen und Musiker auf individuelle Weise mit traditionellen Hörgewohnheiten bricht. Dass das Konzept aufgeht, beweist eine sehr gut gefüllte Arena in Brechts Kraftklub. Girisha Fernando hat einmal mehr Mut und Geschmack bewiesen und ein Kaleidoskop außergewöhnlicher Musik kuratiert. Zeit zum Durchatmen bleibt wenig, kaum hat sich der schwarze Vorhang vor der einen Bühne gesenkt, hebt er sich auf der neben oder gegenüberliegenden Bühne für den nächsten Ansatz, Konventionen zu zertrümmern.

Niemand macht das so radikal und gleichzeitig so tanzbar wie der schwedische Baritonsaxophonist Mats Gustafsson, der für die Erweiterung seines Fire! Orchestra in der Augsburger Jazzszene wilderte und mit ihnen zusammen sein Album Echoes in alle Einzelteile zerlegt, um es wieder zu einer herzhaft lachenden, ausgelassen tanzenden Frankensteinversion seiner selbst zusammenzusetzen. Ostinatos türmen sich bedrohlich auf wie Gewitterwolken, manchmal folgt eine Eruption, manchmal eine Dekonstruktion. Bläser und Streicher schwellen an wie eine fiese Beule, die Solierenden stecken sich gegenseitig an, als wäre es 2020, während sie sich alldem bedienen, was das zeitgenössische Jazzvokabular an Schrägheit zu biegen hat. Harmonie und Dissonanz tanzen Arm in Arm, getragen von der beinhart auf den Punkt gespielten Verlässlichkeit der Koalition aus Bass- und Rhythmusinstrumenten. Je mehr man von Gustafssons Zunge sieht, desto mehr Freude hat er an seiner Band, und man sieht sehr viel davon, und das sehr oft.
Die Brechtnacht: Josy ist gerade die spannendste Künstlerin aus Augsburg
Das Fire! Orchestra lodert hell. Josy hingegen ist von Dunkelheit umweht, von einer faszinierenden, manchmal fast ein wenig einschüchternden Dunkelheit. Sie strahlt als Bühnenfigur die Ästhetik einer Porzellanpuppe aus, die zum Leben erwacht, sobald die Nacht hereinbricht und die einen bis in die schönsten Albträume verfolgt. Sie geleitet mit voluminöser, rauer Stimme durch ihr ganz eigenes Wunderland, das noch eine Spur verrückter ist als das von Alice. Kapuzenmönche, mit Zerrgitarren und Schlagzeugfürsten in schwarzer Spitze gewandet, säumen den Weg, der violette Himmel hängt voller Geigen, die Indiedoom und Garagen-R'n'B und Krawall-Soul spielen. Josy ist eine der im Moment spannendsten Künstlerinnen der Stadt, vielleicht sogar die spannendste. Kein Grund also, aus ihrem Albtraum erwachen zu wollen.
Und wenn man schon geweckt wird, dann am liebsten von Anika. Dunkelblaues Licht, flirrende Elektronik und ihr erzählerischer Gesang fühlen sich an wie der Zustand zwischen nicht mehr tief schlafend und doch noch nicht wach. Das konfuse Einordnen, was Traum war und was real ist, wird erschwert durch ihre hypnotischen Nummern, die mal Wavepop atmen, mal Krautrock, mal Dub, mal alles zusammen, der Morgengrauen scheint unendlich. Ist es schon Zeit, aufzustehen? Lieber nicht, denn draußen ist Winter, meteorologisch und auch so. „Was hat dich bloß so ruiniert?“, fragt sich Spilker am Ende des Konzerts. Das Gehirn ersetzt automatisch das „dich“ mit „uns“.
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