Joschi ist 15. Breitbeinig steht er vor dem amerikanischen Soldaten, der seine Männer zur Eile antreibt. Statt die Deutschen zur Kapitulation zu zwingen, so plappert Joschi und läuft beharrlich hinter einem geschäftigen Offizier her, hätte man zusammen mit der deutschen Luftwaffe den Kampf gegen den Bolschewismus entscheiden sollen. Der Soldat, ein in der Nazizeit geflohener Deutscher, wird zornig. „Hör zu, Junge, die Deutschen, von denen du sprichst, haben hier meine gesamte Familie umgebracht.“ Ein Junge mit einem viel zu großen Fahrrad rollt durchs Bild, über den beschrankten Bahnübergang, schaut mit großen Augen den Soldaten zu, saugt die Erzählungen des frühen Antifaschisten und Fahrradschraubers auf, spürt, dass die Gefahr noch nicht gebannt ist. Ab und zu steht der Fahrradmonteur, ein pensionierter Eisenbahner, auf und kurbelt von Hand die Bahnschranken rauf und runter. Ohne dass je ein Zug käme. Auf Kinderaugenhöhe fährt die Kamera über die Felder und Schotterstraßen.
Es ist Kriegsende, aber Frieden ist noch lange nicht in Möckern. Mit ruhigen, langen Schnitten, die Kamera immer auf Kinderaugenhöhe, breitet der Spielfilm „Stunde Null“ von Edgar Reitz den Mikrokosmos einer staubigen Straßenkreuzung, umrahmt von einer Handvoll Häuser. Es ist Juli 1945, Deutschland ist befreit, Möckern geht von amerikanischer in sowjetische Besatzung über. Die Amerikaner ziehen ab, russische Soldaten rattern mit ihren Pferdekarren ein, bedrohen die Gärtnerin und ihre Nichte, Möckern bei Leipzig wird kommunistisch. 1977 hat Reitz, noch vor seinen „Heimat“-Zyklen, den Film gedreht, nur einen Sommer Zeit gehabt, dieses Spiel mit Licht und Schatten in Schwarz-Weiß einzufangen. Es ist ein Werk mit einer revolutionären, an den Neorealismus des italienischen Nachkriegskinos angelehnten Ästhetik.
„Der Junge, der bin ich“, sagt Edgar Reitz
Zum 80. Jahrestag des Kriegsendes haben das Friedensbüro, Thalia-Betreiber Franz Fischer und Kurator Erwin Schletterer mit der Filmvorführung offenbar einen Nerv getroffen. Der große Kino-Saal war mit über 150 Zuschauerinnen und Zuschauern mehr als voll besetzt. Edgar Reitz, 92 Jahre alt, fit und gut aufgelegt, berichtete im Publikumsgespräch von der Entstehung dieses Films, der „sein persönlichster“ gewesen sei. Er war selbst Zeuge dieses Vakuums, jener Zeit, in der zwar nicht mehr geschossen wurde, aber noch kein Gefühl für Frieden war. Ein historischer Augenblick, in dem unter den Erwachsenen im nahen Umfeld die ersten schweren Schuldfragen aufstiegen. Welche Erinnerungen man als Kind habe, das habe ihn interessiert, also montierte Reitz sich selbst in den Plot. „Der kleine Junge mit dem Fahrrad, das bin ich.“
Der Film ist ein Gemeinschaftswerk, jeder im Team hatte als Kind den Krieg erlebt, die Besatzung, den Hunger, und wie es sich anfühlt, in Hähnchenfleisch zu beißen und den Mund voll zu haben. Jeder habe Beobachtungen und Details eingebracht. Das Drehbuch, verrät Reitz, beruht auf den Erinnerungen eines Kieler Taxifahrers und entstand innerhalb von wenigen Tagen. Ein WDR-Redakteur habe ihm im Frühsommer 1977 die Seiten in die Hand gedrückt, auf denen der Taxifahrer dieses Vakuum zwischen Krieg, Besatzung und Systemwechsel festgehalten hatte. Die Entstehung von Film und Drehbuch sowie das Casting spiegeln die Zeitgeschichte der 70er Jahre. Die Darsteller der amerikanischen Offiziere waren echt, erzählt der Regisseur. Echte Soldaten aus einer Kaserne in Kaiserslautern. Für die russischen Soldaten wurden Deutsche aus einem Auffanglager gecastet, „Russlanddeutsche“, die in den 70er Jahren aus Sibirien und Kasachstan in Deutschland aufgenommen worden waren. „Die sprachen natürlich alle Russisch, hatten auch in der Armee gedient und erzählten uns von Uniformen und Umgangskultur der Sowjet-Armee.“
Bei der Uraufführung blieb das Publikum stumm
Die Uraufführung 1977 in Berlin, so erzählt Reitz, war ein Flop. Einer der schlimmsten in seinem Leben. Zuschauer kamen, wollten aber nicht mit ihm reden. „Anders als Sie heute, sind die einfach wortlos wieder gegangen. Die Zeit war nicht reif für dieses Thema.“ Dass der Film keine Stellung bezieht, die Soldaten-Brutalität aller Seiten und auch die politischen Wendehälse unter den Dorfbewohnern zeigt, hatte ihm das Publikum zunächst nicht verziehen. Doch in den Feuilletons seinerzeit und auch vom Publikum im Thalia wurde ihm gerade das hoch angerechnet.
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