Wer war dieser Bischof Ulrich, der als geistlicher und politischer Führer im hohen Mittelalter Weltgeschichte schrieb? Ein früher Gandalf? Mit wehendem weißem Haar und Bart, der in Augsburg gegen die Ungarn kämpfte wie Gandalf gegen die Orks in Mittelerde? Filmszenen aus „Herr der Ringe“ hat der Augsburger Mittelalterhistoriker Martin Kaufhold zu seinem Vortrag auf dem diesjährigen „Tag der Mittelalterforschung“ mitgebracht. Zauberer Gandalf stürmt auf seinem Schimmel todesmutig die Burgmauern hinauf, während unten die Armeen der Orks wüten. Stoff fürs Kopfkino. Auch wenn die Bronzestatue Bischof Ulrichs (890-973), dem die Historiker diesen Tag anlässlich seines 1050. Todestages gewidmet haben, eher düster ist, die damalige Befestigung der Stadt nicht wie in Mittelerde aus dicken Mauern, sondern nur aus niedrigen Steinwällen und Holz bestand: Die Bilder von Gandalf und seinen Gefährten überlagern sich mit denen von Ulrich und machen ihn lebendig, wie er auf seinem Pferd vor dem Augsburger Dom mit Bischofsmütze, Stola und ausgestrecktem Kreuzstab sich Richtung Osten aufmacht.
Es ist ein Trick und natürlich unhistorisch. Doch Kaufhold weiß seine Zuhörerinnen und Zuhörer zu packen. Wie wir über vergangene Zeiten berichten, bleibt ohne Quellen Fiktion. Selbst mit Quellen ist Geschichte immer noch nur das, was wir aus ihr machen und keine Abbildung der Wirklichkeit. Aber die Bilder geben einen Eindruck von der dramatischen Stimmung, die in dem großflächigen Augsburger Bistum im zehnten Jahrhundert geherrscht haben muss. Denn die Ungarn, die im Streit um die Nachfolge König Ottos I. Partei für den unterlegenen Sohn genommen hatten, verwüsteten schon vor der berühmten Schlacht auf dem Lechfeld die Region. Sie kamen in jenem August 955 in nie gesehener „großer Zahl“, wie Gerhard, der Domprobst und Biograf von Ulrich, seinerzeit schrieb. Alles zwischen Donau und „dem schwarzen Wald“ wurde niedergebrannt.
Seinerzeit zogen die Bischöfe auch selbst mit in den Krieg
Im 10. Jahrhundert waren Bischöfe nicht nur Geistliche, sie hatten dem König Kämpfer zu stellen, zogen auch selbst mit in den Krieg. In ihren Bistümern waren sie für die militärische Sicherheit, den göttlichen Schutz und die kirchliche Rechtsprechung zuständig. Dass Ulrich selbst an Kriegen teilgenommen habe, darauf, so Kaufhold, gebe es keine Hinweise.
In einer Nacht Anfang August 955 kam es in Augsburg zum Showdown mit den Ungarn. Otto I. war noch auf dem Weg, als die Belagerung Augsburgs begann. Die Bewohner, Ritter und Ulrich waren auf sich gestellt. St. Afra, die Pilgerstätte, an der sich Ulrich nach seinem Tod begraben ließ, lag ungeschützt außerhalb der ohnehin niedrigen Mauern und wurde zerstört. Die Bewohner verschanzten sich innerhalb der befestigten „Stadt“, eher eine Siedlung, wie Kaufhold betont. Sie umfasste ein Areal von etwa 600 Meter Länge und 300 Meter Breite um den Dom herum. An einem Tor im Osten, an der Kante der Hochterrasse, kam es zum legendären Gefecht, in dessen Folge sich die überlegenen Ungarn schließlich zurückzogen, was den triumphalen Lechfeld-Sieg Ottos I. kurz darauf entscheidend beeinflusste. Wo dieses Osttor lag, sei noch immer unbekannt, sagt Kaufhold. Er vermutet es am Abhang in der Nähe der heutigen Gallus-Kapelle. Auch die Koordinaten des sogenannten Lechfelds, das wird an diesem Tag klar, kennt bis heute niemand so genau.
Ulrich befahl den Augsburgern, mit Kreuzen durch die Stadt zu ziehen
Laut der Ulrichs-Vita von Gerhard, einer der herausragenden zeitgenössischen Zeugnisse für das Leben im hohen Mittelalter, verbrachte Ulrich die Nacht mit Gebeten und befehligte ohne Schild und Schwert die Kämpfe. „Beten hatte seinerzeit nicht etwa die Funktion einer passiven, frommen Innerlichkeit, sie galt als aktive Teilnahme am Kampf“, erklärt Kaufhold. Ulrich befahl den Klosterfrauen, mit Kreuzen und Fürbitten durch die Stadt zu ziehen, sich auf den Boden zu legen und die Mutter Maria anzurufen. Als Dank stiftete er ihnen 13 Jahre später das Frauenstift St. Stephan.
War Ulrich ein Heiliger? In vielen Darstellungen gilt er als Erster, der offiziell und päpstlich bestätigt heiliggesprochen worden sein soll. Wissenschaftler monieren jedoch die fehlende Urkunde. Eine solche wurde nie gefunden. Doch Thomas Wetzstein, Mittelalterhistoriker von der Universität Eichstätt, betont in seinem Vortrag: „Auf jeden Fall war Ulrich ein Heiliger.“ Für ihn ist vor allem der starke, überregionale Heiligenkult, der schon kurz nach Ulrichs Tod einsetzte, wichtigste historische Bestätigung seines Status. In der Vita von Gerhard stehen die obligatorischen Wunder Ulrichs, Gläubige pilgern zu seinem Grab in St. Afra, und der Bischof von Halberstadt weihte seinen Altar 922 Ulrich von Augsburg. „Wir sollten die formelle päpstliche Bestätigung Ulrichs nicht so hoch hängen“, findet Wetzstein. Der Heiligenstatus dieses berühmtesten aller Augsburger Bischöfe sei überregional nicht nur vom einfachen Volk, sondern auch von anderen Geistlichen im Ritualalltag begründet worden.