Das deutsche Kunstlied (schrecklicher Begriff, dafür einigermaßen präzise), durch Schubert geradezu zum Volkslied geworden, tönendes Sehnsuchtsland verblichenen Bildungsbürgertums, das Kunstlied hat es mittlerweile schwer. Zu unzeitgemäß will es selbst jenem Publikum erscheinen, das in der Klassik seine musikalische Heimat hat. Natürlich gibt es auch heute noch erklärte Liebhaber dieser Kunstform, doch die große Menge andächtig Lauschender, wenn vom „Lindenbaum“ oder vom „wunderschönen Monat Mai“ gesungene Rede ist, will sich nicht mehr so ohne weiteres einstellen. Das war jetzt auch im Kleinen Goldenen Saal zu sehen, wo im Rahmen des Augsburger Mozartfests am Sonntagabend das Lied im Programmzentrum stand und wo doch einige Plätze frei blieben. Und das, obwohl sich da ein Hochkaräter unter den heutigen Lied-Interpreten angekündigt hatte, der Bariton Benjamin Appl.
Und wie um die hypothetische Hürde zu umgehen, dass da ein Konzertabend „nur“ von einem Sänger und seinem Klavierpartner bestritten wird, war die Instrumentalbesetzung um zwei Streichinstrumente erweitert worden, stand letztlich mit Franziska Hölscher (Violine), Harriet Krijgh (Cello) und Herbert Schuch (Klavier) ein veritables Klaviertrio zusammen mit Benjamin Appl auf der Bühne. Die Besetzung gründete jedoch in anderen, rein künstlerischen Gründen. Wie zu Schuberts Zeiten, wie überhaupt in den Salons des 19. Jahrhunderts, sollen in dem Programm, das die vier Musiker überhaupt zum ersten Mal öffentlich präsentierten, das Kunstlied und die Kammermusik sich gegenseitig befruchten.
Ein Verfahren, das künstlerischen Gewinn mit sich bringt
Und zwar nicht nur im Sinne eines strengen Wechselspiels. Was den Abend beim Mozartfest so außergewöhnlich machte, war die Art der Verknüpfung von vokaler und instrumentaler Gattung. Nicht nur, dass der Essener Musikprofessor Matthias Schlothfeldt die ausgewählten Lieder von Schubert und Schumann für Klaviertrio-Begleitung gesetzt hat, was aufregend neue Klang- und Bedeutungshorizonte eröffnet. Mehrfach gibt es in diesem Programm auch Konstellationen, bei denen Lied und Instrumentalstück unmittelbar ineinander übergehen – ein Verfahren, das zunächst für Irritation sorgt, wenn es jedoch derart schlüssig vollzogen wird wie von diesen vier Musikern, nichts weniger als einen künstlerischen Gewinn darstellt.
Da singt Benjamin Appl etwa, vom Trio begleitet, Schuberts „Wanderer“; als kaum merklich die letzten Liedtöne übergehen in einen reinen Klaviervortrag, der sich alsbald zu erkennen gibt als das Adagio aus der „Wandererfantasie“, Schuberts mächtiger Quasi-Klaviersonate; um nach vollständigem Durchmessen dieses langsamen Satzes – Herbert Schuch spielt den Satz in wechselnder Beleuchtung, sinnend, grüblerisch, zweifelnd, verzweifelt – ebenso unmittelbar in ein weiteres Schubert-Lied, also wieder in Gesang mit Trio-Begleitung, einzumünden. Im zweiten Teil des Konzerts erfolgt Vergleichbares mit Schumann, nur geht diesmal die Instrumentalgruppe voran: Mitten im ersten Satz von Schumanns d-Moll-Klaviertrio wechselt die musikalische Szene, Appl intoniert Schumanns düsteres Eichendorff-„Zwielicht“, das am Ende direkt wieder einmündet in den verbliebenen Part des Klaviertrio-Satzes. Hier ereignet sich, was selten geschieht: Die formal scheinbar so festgezurrte kanonische Klassik spielt mit sich selbst, schafft Neues. Faszinierend.
Zum Wort hat Benjamin Appl ein inniges Verhältnis
Benjamin Appl ist ein Liedinterpret mit bezwingenden Gaben. Warm und von samtenem Glanz das Timbre des Baritons, völlig unangestrengt liegt die Stimme auf dem Atem auch dort, wo ausgedehnte Phrasen zu spannen, weite Klangräume zu durchmessen sind, ohne Bruchstellen gelingt dem Sänger die häufig gebrauchte Mixtur aus Brust- und Kopfstimme. Was Appl darüber hinaus zum herausragenden Liedinterpreten macht, ist sein inniges Verhältnis zum literarischen Text, zu den Bedeutungswelten, die im Zusammenspiel von Wort und Musik eröffnet werden wollen. Hörbare Freude hat Appl etwa mit Schuberts „Alinde“, sacht tippt er an die Hintergründigkeiten, die in diesem vordergründig simplen Gedicht sich verbergen. Ein Meister der Andeutung ist er ohnehin, einer, der den Subtext zwar anleuchtet, dabei aber immer die Umgangsformen wahrt, nie platt mit einem Augenzwinkern oder gar denunziatorisch über die Rampe kommen will.
Aber auch aufs Düster-Dramatische versteht sich Appl. Schuberts „Erlkönig“ formt er zur Miniaturoper, gibt, als die halluzinierte Gespenstergestalt schlussendlich „Gewalt“ zu gebrauchen droht, einen regelrechten Schrei von sich. Drastisch-bildhaft hier auch das Arrangement der begleitenden Streicher, die mit hohl klingenden Flageolett-Tönen die unheimliche „Durch Nacht und Wind“-Szenerie in bildhaften Klang überführen. Auch Schumann kommt mit einigen ikonischen Liedern zu seinem Recht, mit der „Mondnacht“ etwa, in der Herbert Schuch mit hingetupften Tönen pianistisches Zauberlicht herabfallen lässt, Schuch, der mit einem Stück aus „Carnaval“ zudem ein weiteres Mal sich als profunder Solist zeigen kann.
Und doch, der bewegendste Moment des gesamten Programms ist Schuberts Lied „Die Götter Griechenlands“. „Schöne Welt, wo bist du?“, fragt darin sein Autor Schiller, und wie Benjamin Appl das formuliert, so ohne alle Aufgesetztheit dringlich, und auch angesichts der Tatsache, dass das Lied am Ende des Abends noch einmal wiederholt wird, das alles legt den Gedanken nahe, dass die Künstler dies in unserer gerade nicht so heimeligen Welt als Appell verstanden wissen wollen. Schöne Welt, wo bist du? Ein Abglanz von ihr war an diesem Abend zu verspüren.
Liedgesang ist die Krönung eines umfangreichen Sängerlebens. Jedoch nicht alle Künstler wagen sich in dieses Feld. Man muss schon eine sehr hohe Präzision in der Artikulation mit einbringen, äußerst akzentuiert phrasieren können und aus sich selbst heraus … dem Zuschauer alle imaginären Bilder bieten, die das Lied aussagen will. Der Sänger ist in der Sache praktisch nackt. Er ist Leinwand und Orchester, er umarmt und tröstet, entführt in emotionale Höhen und Tiefen, legt Balsam auf die Seele. Das Kunstlied ist eine auch für das Publikum kostbare Gesangsform, die nur von Meistern dieses Fachs beherrscht wird. Und so hört man Benjamin Appl die gute Schule von Dietrich Fischer-Dieskau deutlich an. Diese unglaubliche Qualität gibt er Gott sei Dank längst auch an seine Schüler und Studenten weiter und führt das Lied gleichsam undogmatisch in die neue Zeit. Ein wahrer Meister und ein Gewinn für Augsburg – gerade in dieser neuen Zeit.
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