40 Mal ins Allgäu: Warum es Urlauber immer wieder an denselben Ort zieht
Wie ist das, wenn man so oft im selben Ort im selben Hotel Ferien macht? Und warum tut man das? Über eine Ehrung mit Marmorkuchen und den Nordpol im Allgäu.
Am Nordpol sind die Sonnenschirme aufgespannt und zwei der Jubilare tragen kurze Hosen. So wunderlich fängt die Geschichte schon an. Dass man in Bad Hindelang im tiefsten sommerlichen Oberallgäu am Naturbad vorbeifährt und an geöffneten Cabriolets, dann links in ein Sträßchen abbiegt und schließlich vor einem Hotelschild bremst, auf dem steht: „Alte Schmiede am Nordpol“.
Das soll einer verstehen.
Drinnen wartet schon die Hausherrin, es gibt was zu feiern. Die redselige Hotelchefin Ina Uthmann („Ich bin ja auch Kölnerin“) erzählt gleich mal die Nordpol-Story. Damit das vom Tisch ist, es wartet Wichtigeres.
Also: Zwischen Ende Oktober und Mitte Februar schafft es die Sonne kaum übers Imberger Horn; das ist der Hausberg der Uthmanns, wenn man so will. In der Zeit ist es also ziemlich schattig auf ihrem Grundstück. Deshalb haben die Menschen im Ort dieses Fleckchen Erde schon vor Urzeiten „Nordpol“ genannt. Das steht selbst auf einigen alten Landkarten.
Aber die Feier hier findet ja statt, weil da noch was ist, was viele auf Anhieb nicht verstehen werden. Dass es nämlich Menschen gibt, die 40 Mal an ein und demselben Ort Urlaub machen, teilweise in ein und demselben Haus, auch bei den Uthmanns am Nordpol.
Es gibt auch Gäste, die schon 80 Mal da waren
Oder auch 60 Mal, „in den nächsten Tagen kommt ein Gast, der war schon 80 Mal da“, plaudert Ina Uthmann. Aber 40 ist schon nicht schlecht. Wo doch die Welt kleiner geworden ist im Zeitalter von Billigfliegern, Kreuzfahrtschiffen oder Flixbus. Die Leute mal hier, mal da hinreisen; zwar jeweils nicht mehr so lange verweilen wie früher, dafür aber öfter im Jahr fahren, wie Tourismus-Experten berichten.
Damit zu den Müllers und zu Herrn Weiler. Sitzen da erwartungsfroh auf der Eckbank in der Stube, umgeben von Holzdecke, Orchideen, Figürchen und Engelchen, und sagen: Stimmt, früher waren wir zwei Wochen am Stück weg, jetzt sind es acht Tage, dafür fahren wir zwei Mal im Jahr, es waren aber auch schon drei Mal.
Aber mal hier, mal da? Nix da.
Barbara und Bernd Müller sowie ihr guter Freund Achim Weiler haben jetzt also zum 40. Mal Quartier in Bad Hindelang bezogen. 40 Mal rein ins Auto, oder im Fall von Weiler rauf aufs Motorrad, 500 Kilometer von Mendig bei Koblenz runter in den Süden. 40 Mal vertrautes Terrain, vertraute Gesichter, vertrautes Gefühl. Am Ende 40 Mal 500 Kilometer zurück. Macht 40.000 Kilometer oder in etwa ein Mal um den Globus. Quasi eine Weltreise nach Bad Hindelang.
Oder in der Definition der drei: perfekter Urlaub. Wie ist das – immer am selben Ort? Nicht furchtbar langweilig? Keine Lust auf Meer, Exotik, Abwechslung? Das müssen sie erklären.
Erst mal knöpft Max Hillmeier, grauer Anzug, braune Krawatte, sein Sakko zu. Es wird offiziell, die Ehrung auf der Eckbank beginnt. In Hindelang ist jeder ein Stammgast, sobald er zehn Mal hier war. Ab da gibt’s ein kleines Dankeschön, ab 30 Mal ehrt der Tourismusdirektor persönlich. Gut die Hälfte aller Touristen in der 5000-Einwohner-Gemeinde sind Stammgäste. Kein Wunder, dass Hillmeier fast jede Woche irgendwo mit seinen Geschenken anrückt.
Also, liebe Barbara Müller, lieber Bernd Müller, lieber Achim Weiler, „Sie kennen das ja schon von früheren Ehrungen“, sagt Hillmeier. Und dass das mit der Zahl 40 schon was Besonderes sei und die Blumen „ganz frisch aus dem Blumenladen“ kommen. „Sie buchen doch bestimmt schon bei der Abreise wieder fürs nächste Mal, oder?“ Worauf Bernd Müller antwortet: „Wir haben schon gebucht.“
Dann: die Ehrennadel mit der „40“ und einer Gams drauf, dem Symboltier der Alpen; Hillmeier steckt sie jedem ans Oberteil, „ich bin ganz vorsichtig“. Der Ehrenbrief plus Gutschein. Ein Bildband über Hindelang. Ganz zum Schluss: ein Chromaufkleber für Auto oder Motorrad, wieder mit Gams drauf.
Zur Ehrung gibt es Marmorkuchen und Mumm-Sekt
Hillmeier ruft noch herüber, das sei „das ganz normale Programm“ und nicht extra üppig, weil die Presse dabei ist. Ina Uthmann verkündet: „Jetzt gibt’s Kaffee.“ Ehemann Hermann, nicht nur Koch, sondern auch gelernter Konditor, hat einen Marmorkuchen gebacken. Eine Flasche Mumm-Sekt macht „plopp“, und dann endlich die Frage aller Fragen: „Warum gleich 40 Mal? Barbara Müller, 58, Erzieherin, weiße Hose, helles Oberteil, fröhliches Lachen, antwortet: „Hier ist einfach Heimat.“
Die ganze Geschichte beginnt mit ihrem Mann. Bernd, 63, früher bei der Post, jetzt Pensionär, Schnauzbart, Brille, schwarzes T-Shirt, kurze Hosen, hat hier in jungen Jahren mit zwei Freunden Station gemacht. Das war 1977. Er kam wieder, als er geheiratet hatte und Vater einer Tochter geworden war. Sie waren auch mal am Meer, aber: „Ach ja...“, sagt Bernd Müller. In Hindelang quartierten sie sich erst im Nachbarhaus ein, dann in der „Alten Schmiede“. Dann wieder und wieder... Mal kamen die einen Freunde mit, dann andere, Achim Weiler wurde zum Dauerbegleiter.
Parallel entstand eine freundschaftliche Verbindung zwischen ihrer Heimatstadt, wo es alle zwei Jahre ein großes Bierfest gibt, und dem Hindelanger Gebirgstrachtenverein. Weil Mendig aus zwei Stadtteilen besteht, im Volksmund Mendig I und II, nannte man Bad Hindelang irgendwann Mendig III.
Die Berge haben es ihnen angetan, natürlich. Die Wiesen, die Kräuter. Das Lieblingsbänkchen, ein paar Schritte nur vom Hotel entfernt. Die bekannten Gesichter: der Bäcker, der Schmied nebenan, die Frau in der Käserei. Und der Geruch. Wenn sie von der Autobahn abfahren, erzählt Barbara Müller, sagt sie gerne zu ihrem Mann: „Lassen wir die Fensterscheiben runter, ich will das Allgäu riechen.“
Langeweile? „Wir entdecken jedes Mal was Neues“, sagt Barbara Müller. Unbeständiges Wetter? „Wenn’s mal regnet und aus der geplanten Wanderung nichts wird, geht die Welt doch auch nicht gleich unter“, sagt Bernd Müller. Ein wenig Abwechslung? „Hier weiß man, was einen erwartet“, sagt Achim Weiler, 59.
Und schwuppdiwupp, jetzt sind es eben 40 Mal. Was kein Massenphänomen ist, aber so ungewöhnlich auch wieder nicht, sagt der Hamburger Zukunftsforscher Ulrich Reinhardt, 48. Jeder fünfte Deutsche reise immer wieder zumindest in dieselbe Region, wenn auch nicht unbedingt immer in denselben Ort, sagt der Professor und Tourismus-Experte. Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre tat das noch jeder Zweite, „und da ist man wirklich beim selben Gastwirt untergekommen“.
Der Experte sagt: Lieber länger Urlaub machen und dafür einmal weniger
Und warum sind Leute wie die Müllers vielleicht nicht im Allgäu, aber gemessen an allen Reisezielen heute eher die Minderheit? „Drei Gründe“, sagt Reinhardt. „Erstens, weil man mehr Geld zum Reisen hat, also auch mehr reist.“ Zweitens ist das Angebot größer, man ist per Flieger schnell hier und da. Drittens: Hat man sechs Wochen Urlaub im Jahr, kommt man viel herum; die Bedürfnisse steigen, man will immer mehr erleben.
Gleichzeitig sei die Verweildauer am Ferienort gesunken, mit jedem Jahrzehnt um etwa zwei Tage. Dauerte ein Urlaub in den achtziger Jahren im Schnitt noch 18 Tage, sind es jetzt noch zwölf, mit Tendenz zu zehn. „Schlecht für die Erholung“, findet Reinhardt. Sein Tipp: Lieber länger Urlaub machen und dafür einmal weniger im Jahr. Er selbst reist diese Woche mit der Familie nach Griechenland. Für 16 Tage. Und zum ersten Mal.
Die Müllers und ihr Freund sind anders gestrickt. Einmal Hindelang, immer Hindelang. Wenn sie rechtzeitig buchen, klappt es meist auch mit den Lieblingszimmern. Zweiter Stock, die Müllers im Doppelzimmer „Rose“. „Und Achim ist in der ,Primel‘“, wirft Ina Uthmann ein.
Gastgeber und Gäste duzen sich. Klar, nach so vielen Jahren. Die Uthmanns leben ja selbst schon seit 32 Jahren hier. Zuvor hatten sie unter anderem eine Wirtschaft in Bergisch Gladbach. Das Essen schmeckte, irgendwann wussten das auch Fußballer und Schlagersänger. Hermann Uthmann raunt herüber: „Der Nino de Angelo schuldet mir heute noch 80 Mark.“
Noch ein Versuch: Immer Hindelang – ist woanders nicht auch schön? Bernd Müller nippt am Sektglas, als wolle er ein paar Sekunden Bedenkzeit herausholen. „Ach wissen Sie, ich bin altmodisch, ich fahre nicht so gerne weit weg. 500 Kilometer – mehr muss isch nit haben“, sagt er im Singsang-Dialekt seiner Heimat. Da zupft Ehefrau Barbara dann doch an seinem T-Shirt. „Ich sag schon lange, ich möchte mal ans Meer, an die Nordsee oder so.“
„Dann sag ich“, kontert der Ehemann: „Können wir machen. Bedingung ist nur, dass wir im selben Jahr auch hierherfahren.“
Nebenan haben sich Hausherr Uthmann, Tourismusdirektor Hillmeier und Dauergast Weiler in ein Gespräch über die Bundeswehr vertieft, da drängt sich eine persönliche Frage an die Müllers noch auf. Wenn sie schon diese Gegend so lieben, warum nicht gleich herziehen, wenn beide erst mal im Ruhestand sind. „Oh nein“, antworten sie fast im Chor. „Ich würde nie meinen Heimatort verlassen“, sagt er. „Mir sind die Winter hier zu lang“, sagt sie. Lieber Urlaub machen.
Auch wenn es zu Hause natürlich den einen oder anderen gibt, der die 40 Mal nicht nachvollziehen kann. Schon gut, Bernd Müller kann die anderen auch nicht verstehen. „Mallorca, Türkei, Ägypten – da krieg ich schon nen Vogel.“ Seine Devise heißt: „Einsteigen ins Auto, fertig.“ Jetzt erst mal, um heimzufahren, 500 Kilometer hoch in die Eifel. In zwei Monaten stehen sie schon wieder da. Diesmal kommt die Tochter samt Freund mit. Dann geht’s zum Viehscheid. Gebucht ist ja schon, hier unten am Nordpol.
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