Es ist die schönste Nacht des Jahres. Kurz nach halb zwölf wird Deutschland Fußball-Weltmeister. Noch Stunden nach dem Abpfiff liegen sich die Menschen in den Armen. Während die ganze Nation feiert, geschieht in jener Nacht zum 14. Juli 2014 im Berchtesgadener Land ein Verbrechen, wie es grauenhafter nicht sein kann.
Der 20-jährige Soldat Christoph R. hat sich mit Kameraden in der Innenstadt von Bad Reichenhall das Finale angesehen und getrunken. Dann sind die Gebirgsjäger des Bataillons 231 zurück in die Hochstaufen-Kaserne, haben weiter getrunken und sich Schlafen gelegt. Christoph R. aber geht wieder.
Der junge Mann mit dem Milchgesicht und den kurzen dunkelblonden Haaren dreht seinen schwarzen Kapuzenpullover auf links, sodass der hellblaue Aufdruck nicht zu sehen ist. Er packt das Bundeswehr-Kampfmesser KM 2000 aus Solinger Stahl ein, Klingenlänge 18 Zentimeter, Klingenbreite drei Zentimeter. Um 2.15 Uhr verlässt er die Kaserne.
Soldat sticht Rentner nieder und verletzt 17-Jährige schwer
Christoph R. muss zu diesem Zeitpunkt bereits die Absicht gehabt haben, jemanden zu töten. Das Kampfmesser steckt er vorne in den Hosenbund. Der junge Mann geht über eine Brücke. In der Poststraße trifft er um 2.36 Uhr auf den Malermeister Alfons S., 72, der ebenfalls vom Fußball schauen mit Freunden kommt. Unvermittelt greift Christoph R. an.
Wie ein Verrückter sticht er mit dem scharfen Messer auf den älteren Herrn ein – vor allem in den Kopf, ins linke Auge und in den Oberkörper. Mindestens 29 Stiche vermerkt der Obduktionsbericht. Alfons S. stirbt an einer zentralen Lähmung, lebenswichtige Teile des Hirns sind zerstört worden.
Doch Christoph R. flüchtet nicht etwa. Er geht weiter. Am Rathausplatz sagt er Passanten, dass er gerade einen Menschen getötet hat. Dann biegt er in die Berchtesgadener Straße ein. Dort schiebt die 17-jährige Sarah F. ihr Fahrrad nach Hause. Erst grüßt Christoph R., aber als sie vorbei ist, packt er sie von hinten an den Haaren und sticht ihr sofort in den Nacken. Er schlägt und sticht auf das Mädchen so lange ein, bis es zusammenbricht. Auch diesem Opfer sticht der Angreifer ins linke Auge. Die 17-Jährige kann sich mit letzter Kraft zu einem Haus schleppen und klingeln. Das rettet ihr das Leben. Ihr linkes Auge aber bleibt für immer blind.
Nach dem Blutrausch kehrt er in die Kaserne zurück
Jetzt am Montag ist Christoph R. 21 geworden. Und gestern hat vor der Jugendkammer am Landgericht Traunstein der Prozess gegen ihn begonnen. Der Mörder mit dem Gesicht eines Schulbuben sitzt äußerlich ungerührt im Gerichtssaal. Das Verfahren, das bis 20. Mai dauern soll, dreht sich weniger um die Frage, ob Christoph R. der Täter war. Das ist so gut wie sicher. Die Ermittler haben an seinem Kapuzenpulli Blut von beiden Opfern gefunden. Das Messer, das er in ein Gebüsch geworfen hat, passt exakt zur Scheide, die in seinem Spind lag.
Der Prozess unter Vorsitz von Richter Klaus Weidmann dreht sich vor allem um zwei Fragen: Wird R. wie ein Jugendlicher oder wie ein Erwachsener bestraft? Der Unterschied ist erheblich: 15 Jahre Jugendstrafe hier, lebenslänglich mit Sicherungsverwahrung dort. Und: Warum hat er es getan? Vor allem diese Frage wird schwierig zu beantworten sein.
Die Staatsanwaltschaft spricht von reiner „Mordlust“. Die Anklage umfasst fünf Seiten. Auf drei davon sind die Verletzungen der Opfer aufgelistet. Mordermittler sprechen in solchen Fällen von „Übertöten“. Im Regelfall geschieht eine Hinrichtung solch brutalen Ausmaßes nur, wenn der Täter einen gewaltigen Hass auf das Opfer entwickelt hat, wenn sich also Täter und Opfer gekannt haben. Doch der Malermeister und das Mädchen waren reine Zufallsopfer.
Der Angeklagte selbst schweigt. Er beantwortet nicht einmal Fragen zu seiner Person. „Das Motiv kennt nur er selbst“, sagt sein Verteidiger Harald Baumgärtl. Und es ist gut möglich, dass der junge Mann es selbst nicht einmal so genau kennt.
Die Kindheit von Christoph R.
Die Frage, warum ein Mensch so eine Tat begeht und überhaupt dazu fähig sein kann, führt unweigerlich in die Lebensgeschichte. Und wie häufig in solchen Fällen verbirgt sich hinter dem Babyface die Geschichte einer furchtbaren Kindheit. Von Mutter und Vater weiß Christoph R. nicht einmal das genaue Alter. Circa 41, hat er zu einer Vertreterin der Jugendgerichtshilfe gesagt. Zunächst wächst R. in Morbach auf, einem kleinen Ort im Hunsrück. Der Vater schlägt die Mutter, sie lebt fast ein Jahr lang in einem Frauenhaus.
Die Eltern trennen sich, die vier Kinder kommen in Heime und zu Pflegefamilien. Schließlich haben alle Geschwister eine Pflegefamilie gefunden. Nur Christoph bleibt im Heim. Die ganze Jugend über. Er absolviert die Grundschule und macht die Mittlere Reife. Freunde im klassischen Sinn habe er nie gehabt. Er habe nie erlebt, wie es ist, sich auf jemanden verlassen zu können. Zu der Behördenvertreterin sagt er: „Hätte ich andere Eltern, säße ich heute nicht hier.“
Etwa mit 15 hat Christoph R. akzeptiert, dass er nie eine Familie haben wird. Gegenüber der Jugendgerichtshilfe stellt er es zwar so dar, als ob es ihm nichts ausgemacht habe. Doch Sabine Kreutzer-Mühlthaler ist vor Gericht überzeugt: „Das belastet ihn extrem, er verwendet aber alle Energie darauf, es sich nicht anmerken zu lassen.“ Trotz der schwierigen Umstände wird Christoph R. nur einmal straffällig: ein Diebstahl, sonst nichts. R. wirkt kontrolliert bis zur völligen Emotionslosigkeit. Er legt Wert darauf, als intelligent angesehen zu werden.
Mit 18 verlässt er das Heim, lebt ein Jahr als Obdachloser auf der Straße, zieht dann mit einem Kumpel zusammen und schlägt sich mit Auftritten als Kickboxer durch. Zu seiner Familie hat er quasi keinen Kontakt mehr. Im April 2013 geht er zur Bundeswehr. Dort findet er zum ersten Mal, was ihm bislang verwehrt blieb: Geborgenheit und Zusammenhalt. Er treibt viel Sport. Am Wochenende, wenn die Kameraden nach Hause fahren, bleibt er in der Kaserne und liest Bücher über Kosmologie und Astronomie. Ein unauffälliger junger Mann, so scheint es. Bis zu der Gewaltexplosion am 14. Juli. War der 17-Jährige eine tickende Zeitbombe?
Ein 60-seitiges Gutachten des Psychiaters Matthias Hollweg soll Aufschluss geben. Auf R.’s Facebook-Profil gab es verstörende Einträge. „Du trägst Dolce & Gabbana, ich trag’ Heckler & Koch“, stand da zu lesen. Gerne zeigte er Fotos von sich und seinen Kameraden: beim Sport, beim Klettern, beim Baden. Wenn er getrunken hatte, bekam er rote Backen. Die Soldaten tranken auch in der Nacht des WM-Finales. Ein Gutachter hat hochgerechnet, dass es zur Tatzeit bei R. zwischen eineinhalb und zweieinhalb Promille gewesen sein könnten.
Und auch gewaltverherrlichende Computerspiele haben eine Rolle in Christoph R.’s Leben gespielt, auch wenn er das selbst gegenüber den Behörden herunterspielt. Es gibt ein Spiel namens „Skyrim“, bei dem in einer Version den Opfern die Augen ausgestochen werden. Eine mögliche Vorlage für das Verbrechen?
Bad Reichenhall steht unter Schock
Das 17000 Einwohner zählende Bad Reichenhall steht nach der Tat unter Schock. Der Kurort hat bis heute nicht den Einsturz der Eishalle 2006 mit vorwiegend jungen Opfern verkraftet. „Die Schockstarre im Juli 2014 war wochenlang spürbar“, sagt Oberbürgermeister Herbert Lackner. Zur Fassungslosigkeit kommt Angst. Denn bis der wahrscheinliche Täter gefasst wird, vergehen drei Wochen. Die Polizei zeigt massive Präsenz. Läuft der Mörder doch noch frei herum.
Am Morgen danach bricht R. mit seinem Bataillon zum Truppenübungsplatz Hammelburg in Unterfranken auf. Am Freitag endet der Einsatz und R. fährt in seine Heimatstadt Morbach. Am Montag erscheint er nicht mehr zum Dienst.
Während 60 Ermittler in der „Soko 14. Juli“ nach dem Mörder suchen, fliegt Christoph R. vom Flughafen Frankfurt-Hahn aus nach Norwegen. In Oberbayern patzt derweil die Polizei. Sie nimmt zwei junge Männer fälschlich als Tatverdächtige fest. Der zweite, Alexander G., 21, hat das Pech, Christoph R. ähnlich zu sehen. Zudem löscht er zufällig an jenem Tag sein Facebook-Profil, als die Polizei ein Phantombild veröffentlicht. Sarah F. hat im Krankenhaus eine Beschreibung des Täters abgegeben.
Christoph R. wird in Norwegen von der Polizei gefasst
Am 5. August ist Christoph R. in der Nähe von Trondheim zu Fuß in einem Tunnel unterwegs, der nur für Fahrzeuge gedacht ist. Eine fürsorgliche norwegische Polizeistreife lädt ihn ins Auto und setzt ihn hinter dem Tunnel ab. Als später der internationale Haftbefehl auf dem Revier eintrudelt, erinnert sich einer der Polizisten. Sie fahren zurück und nehmen R. fest. Er trägt einen Tarnanzug. Dieses Mal scheint es der richtige Mann, die Beweislage ist erdrückend. Es gibt passende DNA-Spuren, bei R. werden Gegenstände der Opfer gefunden, zum Beispiel ein Taschenspiegel von Sarah.
Bad Reichenhall atmet auf. Und wird wieder handlungsfähig. „Die Stadt ist zusammengerückt“, sagt OB Lackner. Das Opfer Sarah F. und ihre Familie werden nach Kräften unterstützt, Spenden werden gesammelt. Die junge Frau nimmt die Hilfe dankend an. Sie arbeitet inzwischen wieder als Auszubildende in einem Drogeriemarkt und scheint die Tat, so gut wie es eben möglich ist, verarbeitet zu haben. Am dritten Prozesstag soll sie aussagen. Ihr Anwalt sagt: „Wir werden am Freitag eine sehr tapfere junge Frau sehen.“