Das Kind aus der Krippe
Ein Stern war zwar nicht aufgegangen und es waren auch keine Könige aus dem Morgenland angereist. Aber schon gleich nach der Geburt war Christian weit über die Grenzen von Pöttmes hinweg bekannt. Wie es dem Findelkind heute geht, erzählt Nadja Aswad.
Als Familie Müller* "ihr" Kind bekam, war es schon so etwas wie eine kleine Berühmtheit. Ein Stern war zwar nicht aufgegangen und es waren auch keine Könige aus dem Morgenland angereist, um das Neugeborene zu suchen und zu beschenken. Dafür hatten Zeitungen, Radiostationen und Fernsehsender in halb Europa über das Baby berichtet. Bis nach Australien war die Kunde von seiner Geburt gedrungen. Viele wollten helfen. Noch mehr waren einfach nur neugierig, wollten wissen, wer dieses Kind ist.
Die Geschichte des kleinen Christian begann an einem kalten Dezembertag 2008, und es ist zunächst keine schöne Geschichte. Christian kam in einem Auto zur Welt. Und er war wohl nur wenige Minuten alt, als ihn seine Mutter aussetzte. Nicht irgendwo. Sie tat dies in einer Kirche in Pöttmes im Landkreis Aichach-Friedberg. Die Pfarrgemeinde stellt hier immer zur Adventszeit vor dem Altar eine kleine Holzkrippe auf, die die Kinder mit Stroh füllen. Genau dort legte die Mutter Christian hinein. Dann war sie verschwunden.
Es mag Schicksal sein, ein kleines Wunder, dass Thomas Rein nur kurze Zeit später, maximal zwei Stunden nach der Geburt, in die Kirche ging, um dort zu beten. Rein ist Pfarrer der Marktgemeinde. Und da lag Christian. Er war in ein T-Shirt gehüllt und mit einem der kleinen Teppiche zugedeckt, auf dem sonst die Ministranten knien. In der Kirche war es zwölf Grad kalt. Das Kind schrie.
Als Thomas Rein später gefragt wird, was damals seine ersten Gedanken waren, antwortet er: "Das gibt's doch nicht!" Der Pfarrer erinnert sich: "Es war ein erschütterndes Bild. Ein kleines Kind, ganz allein und hilflos." Gott sei Dank habe der Junge geweint, sagt Rein. Sonst hätte er ihn vielleicht gar nicht so schnell bemerkt. Der Pfarrer eilte mit dem Kind auf dem Arm in sein Büro und rief den Notarzt.
Noch am selben Tag wurde die Mutter des Säuglings aufgespürt. Sie habe schon drei Kinder und kämpfe mit familiären und sozialen Problemen, hieß es. Das vierte Baby habe sie heimlich in die Kirche gebracht und "in Gottes Hände gegeben", soll sie gesagt haben. Eine Woche nach Weihnachten kehrte sie schließlich in ihre Heimat nach Rumänien zurück - ohne Christian.
Heute ist der Bub "in den besten Händen", sagt Pfarrer Rein. Seit einem Jahr lebt er bei einer Pflegefamilie im Landkreis Aichach-Friedberg. Rein fühlt sich mit dem kleinen Christian verbunden. Er hat ihn getauft und war auch zu seinem ersten Geburtstag am 2. Dezember eingeladen. "Im Nachhinein betrachtet", sagt der Pfarrer, "war alles eine glückliche Fügung. Die Förderung, die er hier erfährt, hätte er in Rumänien nie bekommen." Davon sei auch Christians richtige Familie in Rumänien überzeugt, die er im Sommer besucht hat. Christian braucht viel Liebe. Die Ärzte haben früh festgestellt, dass er sowohl körperlich als auch geistig behindert ist.
Das Haus seiner Pflegefamilie ist gemütlich eingerichtet. Alte Holzmöbel sorgen für eine wohlige Atmosphäre. Im Durchgang zum Esszimmer hängt eine bunte Babyschaukel. Im Wohnzimmer steht ein Laufstall, vollgepackt mit Spielzeug. Und auf dem Sofa sitzt Christians Pflegemutter und beruhigt ein weinendes Baby - Christian. Dann fängt sie an zu erzählen.
Besonders im ersten Monat sei das Leben mit dem Kleinen hart gewesen, beginnt sie. "Er hat sich immer an mir festgeklammert und ließ sich nicht beruhigen. Das war eine katastrophale Zeit", erinnert sich Martha Müller*. "Dann hat er fünf, sechs Stunden am Stück geschrien und war total verkrampft. Vielleicht hat er gespürt, was mit ihm passiert ist, und war deswegen so verstört." Bei Routineuntersuchungen hatte sich herausgestellt, dass Christian krank ist. "Er ist fast blind. Auf dem rechten Auge sieht er gar nichts, und auf dem linken kann er nur Schatten wahrnehmen. Außerdem leidet er unter epileptischen Anfällen."
Es ist eine schwierige Situation. Aber sie kann damit gut umgehen. Martha Müller hat 35 Jahre als Kinderkrankenschwester gearbeitet. Bevor das Findelkind in ihre Obhut gegeben wurde, hatte sie bereits zwei Neugeborene in Pflege, deren Mütter im Aichacher Gefängnis einsaßen. "Dass Christian krank ist, hat für uns keine Rolle gespielt. Mein Mann und ich waren sofort sicher: Wir kümmern uns um ihn."
Auch ihre erwachsene Tochter pflegt den Einjährigen mit. "Für sie ist er eine Mischung aus kleinem Bruder und eigenem Kind", sagt Müller, und sie lacht dabei. In ihren Armen wiegt sie das Baby mit den dunkelbraunen Haaren. Es schnarcht leise und schmiegt sich fest an sie. Zwischendurch hört man ein zufriedenes Schmatzen.
Jede Woche geht die Pflegemutter mit Christian zur Krankengymnastik. Sie suchen die Logopädin auf, um seine Sprachfähigkeiten zu trainieren. Dann geht es zur Blindenfrühförderung. Zudem steht Babyschwimmen auf dem Programm, und in einer Krabbelgruppe ist er auch.
Dass manche Menschen denken, sie würde Profit mit der Pflege des Kindes machen, kann Martha Müller nicht verstehen. "Mein Mann wurde gefragt, warum er denn noch arbeite - er könne doch bestimmt von den Spenden leben, die dem Baby aus aller Welt geschickt würden." Sie betont, davon nie etwas bekommen zu haben. Sie will es auch gar nicht. "Das verwaltet das Jugendamt. Wir kümmern uns nur um das Kind."
Eberhard Krug, Leiter des zuständigen Jugendamtes, bestätigt: "Die Gelder werden nicht in bar ausgezahlt, sondern ausschließlich zum Wohle des Babys verwendet."
Viele Hilfsorganisationen haben sich im vergangenen Jahr bei Krug gemeldet und versprochen, dem Findelkind zu helfen. Nahezu die Einzigen, die auch Wort gehalten haben, sei die Kartei der Not gewesen, das Leserhilfswerk unserer Zeitung. Auf die habe er sich verlassen können, sagt er. Das Geld wird für Therapiekosten verwendet, die von der Kasse nicht bezahlt werden.
Trotz allem ist Martha Müller überglücklich, dass sie sich um Christian kümmern darf. Nach einer schweren Erkrankung vor drei Jahren hatte sie keine Kraft mehr für ihre Arbeit als Krankenschwester. Seitdem suchte sie nach einer neuen Aufgabe. "Immer nur aufzuräumen und einzukaufen und danach auf meinen Mann und meine Tochter zu warten, das war mir zu wenig."
Wie lange Christian bei den Müllers bleiben wird, ist ungewiss. Seine leibliche Mutter meldet sich gelegentlich bei ihnen, eine Adoption lehnt sie aber ab. Und so bleibt der Pflegefamilie nur die Hoffnung: "Wir haben signalisiert, dass wir ihn sehr lieben und gerne bei uns haben", sagt Martha Müller, "alles Weitere wird die Zeit zeigen."
Nicht nur heute, an Heiligabend, hat Christian, das Kind aus der Krippe, ein Zuhause. Von Nadja Aswad
(*Name von der Redaktion geändert)
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