Das Rätsel um brennende Flüchtlingsheime
2014 brennen in Mittelfranken Flüchtlingsunterkünfte. Es ist der Beginn einer bundesweiten Serie. Über die fast aussichtslose Suche nach den Tätern.
Vorra. Es war der erste Anschlag auf ein Flüchtlingsheim in Bayern. Alle haben davon geredet. Die Stammtischbesucher. Die Sprecher der Tagesschau. Kanzlerin Angela Merkel. Sogar die NewYork Times schrieb über Vorra. Für die Zeitung war die kleine Gemeinde in Mittelfranken der Ort, an dem deutsche Gastfreundschaft in Feindseligkeit umschlug.
Vor anderthalb Jahren, am 11. Dezember 2014, brannten hier nachts drei Gebäude, die gerade zu Flüchtlingsheimen umgebaut wurden. Der rote Schriftzug auf einer der Wände hat sich eingeprägt, nicht nur wegen seiner grausigen Rechtschreibung: „Kein Asylat in Vorra“. Dazu schmierten der oder die Täter ein Hakenkreuz – und das Dorf mit den 1700 Einwohnern im Nürnberger Land war gebrandmarkt.
Zwickau, Borsdorf, Halle (Saale), Eisenach – auch dort gab es im März und April Attacken auf Flüchtlingsunterkünfte. Doch die Meldungen sind Alltag geworden, nicht mehr als Notizen in den Nachrichten.
Kriminalhauptkommissar Bruno Meixner hört noch immer genau hin, wenn solche Meldungen im Radio oder im Fernsehen auftauchen. Er denkt dann an seine Kollegen, die schon am Tatort sind. Meixner war in Vorra so nah dran wie keiner. Sechs Wochen lang hatte er ein kleines Büro im Rathaus. Die Zeitungen schrieben über ihn, er war im Fernsehen. Meixner – randlose Brille, kurzes graues Haar, pflichtbewusster Blick – wurde das Gesicht der Soko Vorra.
Wer die Brandstifter sind, weiß bis heute niemand
Heute arbeitet der 55-Jährige längst wieder an seinem Schreibtisch bei der Kriminalpolizei in Schwabach. „Als überhaupt keiner mehr gekommen ist, haben wir das Büro in Vorra aufgelöst“, sagt er. Auch in dem Briefkasten, den die Polizei an einem Baum vor dem Rathaus aufgehängt hatte, war nie etwas drin. „Nicht mal Werbung.“
Inzwischen sind die Gebäude an der Hauptstraße längst saniert. Gepflegte, beige getünchte Häuser, eines neben der Kirche, eines gegenüber der Raiffeisenbank. Im Dezember sind die ersten Flüchtlinge hier eingezogen. Drei Familien aus dem Irak, eine aus Syrien. Es laufe gut mit ihnen, hört man im Ort.
Nur: Wer die Brandstifter sind, wo sie wohnen, das weiß bis heute niemand. Die Bürger von Vorra aber werden jeden Tag daran erinnert, dass man die Täter noch nicht gefasst hat. Über dem Geldautomaten in der Sparkasse hängt das Fahndungsplakat. Man läuft daran vorbei, wenn man zum Bäcker geht. Oder zum Metzger.
Nachdem die Soko Vorra das Foto im Februar 2015 veröffentlicht hatte, gingen 22 Hinweise ein. Zwölf Zeugen meinten, die Person erkannt zu haben. Zum Täter führte keiner der Hinweise. Nach und nach sei das „Hinweisaufkommen abgeflacht“, sagt Elke Schönwald, Pressesprecherin des Polizeipräsidiums Mittelfranken. Inzwischen meldet sich keiner mehr. Die DNA-Spuren vom Tatort scheinen von einem Phantom zu stammen. Genauso wie der Grillkohleanzünder, mit dem das Feuer gelegt wurde. Tausende Spuren führten in viele Richtungen, aber immer in die falschen.
1005 Angriff auf Asylunterkünfte im Jahr 2015
Ermittler in ganz Deutschland kennen das. Denn nur die wenigsten Fälle dieser Art werden aufgeklärt. Erst vor wenigen Tagen berichtete das Bundeskriminalamt (BKA) von 45 Brandanschlägen auf Flüchtlingsheime seit Beginn des Jahres 2016. Das sind etwa zehn pro Monat. Zuletzt ist es zumindest nach außen hin ruhiger geworden. Im Internet sei das Aggressionspotenzial nach wie vor allgegenwärtig, sagte BKA-Chef Holger Münch kürzlich. „Die Sprache kommt häufig vor der Tat.“
Aussagekräftige Zahlen zur Aufklärungsquote existieren bislang nur für das Jahr 2014. Damals gab es im Bundesgebiet 199 Angriffe auf Flüchtlingsheime. Der Spiegel und das Recherchenetzwerk correctiv.org haben für 157 dieser Fälle ausgewertet, wie oft die Ermittlungen mit einem Erfolg endeten: Nur 15 Täter wurden bislang verurteilt.
2015 zählte das BKA mehr als 1000 Angriffe auf Asylunterkünfte – fünfmal so viele wie im Vorjahr. Etwa jeder zehnte war eine Brandstiftung. Kurz nach Weihnachten etwa zündelte ein Unbekannter an einer noch unbewohnten Flüchtlingsunterkunft in Marktoberdorf (Kreis Ostallgäu). Einen Monat später hätten dort rund 90 Asylbewerber einziehen sollen. Verletzt wurde niemand, der Schaden blieb mit 2000 Euro gering. Aber es war ein Fall mehr in der Statistik. Anfang Februar dann stand der Dachstuhl eines geplanten Flüchtlingsheims im Kaufbeurer Stadtteil Neugablonz (Ostallgäu) komplett in Flammen. Sachschaden: mehrere hunderttausend Euro. Ermittlungsstand: eindeutig Brandstiftung. Hinweise auf die Schuldigen gibt es nach Angaben des Polizeipräsidiums Schwaben-Süd/West nicht. Solange sich kein neuer Ermittlungsansatz ergibt, liegen beide Fälle bei den Akten.
Die Soko Vorra auf zehn Personen verkleinert
Auf dem Schreibtisch von Kriminalhauptkommissar Meixner steht seine ganz persönliche „Akte Vorra“. In einem Leitz-Ordner bewahrt er alles auf, was mit dem Fall zu tun hat. Das Fahndungsplakat, Zeitungsberichte, den Dankesbrief des Vorraer Bürgermeisters. „Handschriftlich“, betont Meixner. Der Bildband der Gemeinde, den er zum Abschied bekommen hat, steht gleich daneben. Heute ermittelt Meixner nicht mehr in der Sonderkommission, die Kollegen in Schwabach haben ihn wieder gebraucht. Als die Ermittler sich in einem Ortsteil von Vorra zur Weihnachtsfeier trafen, war er natürlich trotzdem dabei. Die Soko wurde Anfang Mai auf zehn Personen verkleinert. Die werten weiter Telefonverbindungen aus, gleichen Spuren mit anderen Straftaten ab, interpretieren alte Hinweise neu.
Der Fall Vorra vereint alles, was die Aufklärung von Anschlägen auf Flüchtlingsheime so schwierig macht. Die Taten geschehen nachts, die Täter verschwinden so schnell, wie sie gekommen sind. Gerade bei Bränden kommt dazu, dass das Feuer selbst Spuren zerstört und bei den Löscharbeiten zwangsläufig andere entstehen.
Brandmittelspürhunde, Taucher in der Pegnitz, mehr als tausend Vernehmungen: „Wir haben bei den Ermittlungen Wege beschritten, die wir noch nie zuvor gegangen sind“, sagt Polizeisprecherin Schönwald. Gleichzeitig hat der Fall Vorra eine bundesweite Serie von Brandanschlägen auf Asylbewerberheime begründet. Eine Serie, in der ganz normale Bürger zu Straftätern werden. So wie der Finanzbeamte mit Familie und Doppelhaushälfte, der ein Haus für Flüchtlinge in Schleswig-Holstein niederbrannte, weil er die Idylle seines Dorfs gefährdet sah. Oder der Feuerwehrmann in Nordrhein-Westfalen. Er zündete das Flüchtlingsheim neben seinem Haus an, weil er befürchtete, seine Freundin würde sonst nicht mehr bei ihm übernachten. Zwei syrische Familien konnten sich aus dem Haus retten.
Die Fallanalytiker des BKA haben ein Profil des „typischen Täters“ erstellt: männlich, zwischen 18 und 35 Jahre alt, in zwei von drei Fällen Einheimischer. Zwei Drittel der bisherigen Verdächtigen waren vorher nicht im rechtsradikalen Milieu unterwegs. Genau das ist nach Angaben des BKA so gefährlich – und macht es besonders schwierig, die Täter zu stellen.
Anschläge auf Flüchtlingsheime, sagt der Soziologe Sasa Bosancic, würden inzwischen oft „als legitimer Widerstand definiert“. Widerstand gegen eine vermeintlich gesetzeswidrige Flüchtlingspolitik, gegen eine drohende Gefahr für den Frieden im eigenen Dorf, gegen alles Fremde. Bosancic ist an der Universität Augsburg Spezialist für Soziale Ungleichheit, Medien- und Diskursanalyse. Die Flüchtlingskrise werde von potenziellen Tätern als „eine Art Notstand empfunden, der eine Ausnahme vom geltenden Unrecht legitimiert“. Teilen viele diese Einstellung, entsteht die berühmte Mauer des Schweigens, welche die Suche nach Verdächtigen ins Leere laufen lässt.
Name des Dorfes beschmutzt
In Vorra haben die Bürger kurz nach der Tat ein Banner an der Brücke über die Pegnitz festgemacht. Es zeigt die Menschenkette, die 300 Bewohner durch den Ort gebildet haben, dazu den Satz: „Flüchtlinge brauchen Freunde.“ Eineinhalb Jahre später hängt es noch an derselben Stelle. Viele der Bewohner hat es schwer getroffen, dass der oder die Täter den Namen ihres Dorfs beschmutzt haben.
Einen bewegt der Fall vielleicht noch etwas mehr: Siegfried Fuchs. Der 72-Jährige lebt seit fast 50 Jahren hier und war früher selbst bei der Polizei. „Ein Jahr lang war Vorra bei jeder Berichterstattung über rechtsradikale Aktionen, bei entsprechenden Gesetzesvorlagen und bei Politikeraussagen zu diesem Thema präsent“, sagt er. Fuchs hat das genau verfolgt. Er kümmert sich ehrenamtlich um das Gemeindearchiv. Sein Arbeitsplatz ist da, wo nach der Tat Kriminaler Meixner auf Zeugen wartete. Wie die meisten in Vorra ist der Pensionär sich sicher, dass man sein Dorf „zu Unrecht in die rechte Ecke gestellt hat“. Fuchs ist froh, dass sich der Aufruhr gelegt hat. Seine alte Erfahrung aus der Zeit bei der Polizei lässt ihn vermuten: „Wenn nicht doch noch Insider plaudern, dürfte die Tat kaum aufzuklären sein.“ Die Fahndungsplakate? „Man lässt sie halt mal hängen“, sagt er. Im Ort aber werde „kaum noch bis gar nicht mehr über die Sache gesprochen“. Stattdessen setzen sich viele ehrenamtlich für die Flüchtlinge ein, die Kinder lernen Deutsch an der Grundschule im Ort.
Wieder Feuer in Flüchtlingsheim in Kaufbeuren
Auch in Marktoberdorf und Neugablonz leben inzwischen mehrere hundert Asylbewerber. Erst vor ein paar Tagen hat es wieder in einer Unterkunft in dem Kaufbeurer Stadtteil gebrannt. Die Bürger befürchteten Schlimmes. Doch die Entwarnung kam schnell: wohl keine Brandstiftung. Alles andere hätte den stellvertretenden Kaufbeurer Bürgermeister Gerhard Bucher auch gewundert. Schließlich sei drei Monate nach dem Dachstuhlbrand „wieder Normalität eingekehrt“. In Marktoberdorf koordiniert Pfarrer Klaus Dinkel 30 bis 40 Ehrenamtliche, die sich für Flüchtlinge engagieren. Auch er bestätigt: Nach einem Friedensmarsch mit 400 Teilnehmern kurz nach der Tat sei man „relativ schnell zur Tagesordnung übergegangen“. Was bleibt auch anderes übrig?
Bucher hofft auch vier Monate nach dem Feuer noch, dass die Polizei die Täter fasst. „Ich halte das für wichtig, dass die Bevölkerung mit dem Thema abschließen und ihre Ängste überwinden kann.“
In Mittelfranken kümmert sich Kriminalhauptkommissar Meixner wieder um Räuber und Erpresser. Auch er vertraut weiter auf die Arbeit seiner Kollegen. Ein super Team sei das gewesen, sagt er. Falls sie etwas herausfinden, würde Meixner sein provisorisches Büro im Rathaus sofort wieder beziehen. „Den Schlüssel haben wir damals behalten.“
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