Der Chor der stummen Sängerinnen
In München treffen sich jede Woche sechs gehörlose Frauen, die es sich trotz ihrer Behinderung nicht nehmen lassen zu singen. Das funktioniert mit einer bestimmten Methode. Von Jan Chaberny
Einen Augenblick noch bitte, so kann es nicht losgehen. Margarete Spangenberg steht auf, macht zwei Schritte, reißt das Fenster auf. Heiße Juliluft strömt hinein, die Frauen atmen durch, unter ihnen rauscht der Nachmittagsverkehr; Autos fahren an, eine Trambahn quietscht, Schüler lachen. Gute Luft ist jetzt hier drinnen, aber auch der Lärm der Stadt. Nicht gerade die beste Voraussetzung, um mit Chorproben zu beginnen.
Dachauer Straße fünf, ganz in der Nähe des Hauptbahnhofs. Die sechs Frauen, die sich immer montags zum Singen treffen, schauen auf Angelika Sterr, deren Arme durch die Luft schwingen. Die Probe hat begonnen, und der Lärm von draußen ist egal - die Frauen hören ihn nicht.
"Regenbogen" heißt der katholische Chor. Es ist ein Gebärdenchor. Die Mitglieder, zwischen 49 und 78 Jahre alt, sind bis auf Gundi Kurrer allesamt gehörlos oder schwerhörig. Sie unterhalten sich in Gebärdensprache. Sie singen in Gebärdensprache. Und Angelika Sterr ist ihre Dirigentin. Die 51-jährige Seelsorgerin für Hörgeschädigte im Erzbistum München und Freising ist nicht gehörlos. Aber vor vier Jahren, als sie den Chor gründeten, hat sie Gebärdensprache gelernt. "Es hat ein Jahr gedauert, bis sie mich verstanden haben", sagt Angelika Sterr.
Die Frauen stehen in einer Reihe, Anna Maier wie immer ganz links, Agnes Siegl diesmal rechts. Vor ihnen liegen die Texte, ihre Arme haben sie angewinkelt. Sterr ist Dirigentin, aber sie besitzt keinen Dirigierstab. Ihre Aufgabe ist es nicht, den richtigen Takt vorzugeben, ihre Aufgabe ist es, für den richtigen Ablauf der Gebärden zu sorgen. Den Text des Stückes in eine Abfolge von Gesten zu übersetzen und die Melodie der Töne in eine Choreografie der Bewegungen zu verwandeln. Eine stille Performance.
Die Texte der Kirchenlieder, die sie auswählen, werden nicht Wort für Wort in Gebärdensprache übertragen. Angelika Sterr sagt, das würde den Bewegungsablauf nur überfrachten. "Wir übersetzen die Texte poetisch." Die erste Frage ist, was der Sinn einer Liedzeile sei. Die zweite, wie die Bewegungen, mit der die Zeilen umschrieben werden, im Fluss ausschauen. "Wir überführen Gefühle in Gesten, Psychisches in Physisches, die Optik muss zum Inhalt passen", sagt Angelika Sterr.
An diesem Nachmittag proben sie das Lied "Gott ist die Hoffnung", sie gehen Satz für Satz durch. Angelika Sterr macht eine Abfolge von Gesten vor. Manchmal kann man sie übersetzen wie das Wort "Brot", bei dem sie mit ihren Händen Teig kneten, manchmal muss man raten und wieder ein anderes Mal unterbricht Margarete Spangenberg die Probe, weil ihr die Bewegungen nicht fließend genug sind. Oder weil sie glaubt, die Dirigentin habe ein Wort nicht richtig übersetzt. Aber wie soll das auch gehen?
Gebärdensprache ist ein Zeichensystem, bei der Gestik, Mimik, die Körperhaltung und das lautlose Formen von Silben ineinandergreifen. Es ist eine komplexe, eine faszinierende Angelegenheit, die Gundi Kurrer vor ein paar Jahren dazu brachte, an der Volkshochschule einen Kurs zu belegen und hier mitzumachen - aber es ist eben auch eine uneinheitliche, landesweit noch nicht standardisierte Sprache.
"Bis vor zehn Jahren war Gebärdensprechen in der Öffentlichkeit nahezu tabu", sagt Kurrer. Den älteren Mitgliedern des Chores - Anna Maier, Margarete Spangenberg, Dora Werner, Erzebet Schopper - wurde in der Schule noch verboten, mit den Händen zu sprechen. Sie taten es trotzdem, heimlich, und dadurch hat sich eine uneinheitliche, eine stark individualisierte Form der Gebärdensprache ausgeprägt.
Aber sie verstehen sich. Alle vier Wochen treten sie auf, sonntags in der Gemeinde "Heilig Blut" in Bogenhausen. Sie sind mittlerweile gut eingespielt. An diesem Montag wird viel gelacht und die Probe vorzeitig beendet. Die Lieder sitzen, Margarete Spangenberg sieht zufrieden aus. Vor den Frauen steht Apfelkuchen, von draußen trägt die Juliluft die Geräusche der Stadt herein. Die Sängerinnen hören sie nicht. Sie konzentrieren sich auf sich selbst. Von Jan Chaberny
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