An der Wand des kleinen Raumes hängt die türkische Flagge. Gegenüber, an den Türen der grauen Metallschränke, ist der Jahresplaner befestigt. Ramadan, der islamische Fastenmonat, ist mit dickem Strich darin markiert. Er hat inzwischen begonnen. Doch Nafis Osmanoski, Mehmet Sözen und Hasan Ovali, die im Gemeinschaftsraum der türkisch-islamischen Gemeinde von Kempten am Tisch sitzen, sind an diesem Nachmittag in Gedanken bei etwas anderem. Bei einer Gefahr, die seit einiger Zeit in ihrer Stadt lauert. So wie in ganz Bayern und überall in Deutschland: Salafismus, die stetig wachsende Bewegung radikaler Muslime. Internetpropaganda, Treffen in einschlägigen Moscheen, junge Leute, die zu Gotteskriegern werden – die Fäden des Netzwerks in der grünen Farbe des Islam sind fein gesponnen.
Kempten ist ein Schwerpunkt des Salafismus geworden: Etwa zehn junge Leute sind inzwischen Radikale
„Ich kapiere es einfach nicht, wie so etwas geschehen kann. Da betreibt doch jemand Gehirnwäsche“, sagt Nafis Osmanoski. Der 36-Jährige meint die jungen Kemptener, die radikal geworden sind. Etwa zehn Personen umfasst die Kemptener Zelle, von der bei den Sicherheitsbehörden inzwischen die Rede ist. Eine Zahl, die nur auf den ersten Blick undramatisch niedrig erscheint. Denn tatsächlich gehört Kempten damit neben Ulm und Augsburg zu einem der Schwerpunkte des Salafismus in Schwaben.
Und hinter dieser Zahl steht auch die Befürchtung, dass weitere junge Leute nach Syrien ziehen könnten, in den Terrorkrieg. Dort, wo vor fünf Monaten David G. starb, der 19-jährige Islamkonvertit aus Kempten (wir berichteten mehrfach). Denn die Salafisten, die Menschenrechte verneinen und sich für das islamische Recht, die Scharia, aussprechen, finden rasanten Zulauf. 2011 gab es laut bayerischem Verfassungsschutz rund 3800 Salafisten in Deutschland. Aktuell gehen die Behörden von etwa 6000 aus – davon 550 aus Bayern.
In den Familien spielen sich dramatische Szenen ab, in der Moschee gibt es Diskussionen
In der türkischen Moschee am Rande von Kemptens Innenstadt kennen sie die, die abgeglitten sind. Zum Beispiel über die örtlichen Sportvereine. Kurzes Haar, normale Kleidung, Fußball kickend mit anderen – so seien sie früher gewesen. Mittlerweile haben sie sich Bärte wachsen lassen, tragen dunkle Kleidung. Auf Pullovern und Mützen ist auf Arabisch das islamische Glaubensbekenntnis aufgedruckt. Auf schwarzem Grund steht es für eine Einstellung, die den Terror von Al- Kaida verherrlicht.
In den Familien spielten sich dramatische Szenen ab, die Eltern seien verzweifelt. Auch in der Moschee soll es Diskussionen gegeben haben und Streit mit den Salafisten. Am Ende habe man sie weggeschickt. Eine solche Gesinnung habe keinen Platz in dem in Altrosa gestrichenen Haus, sagen die Türken. „Diese Leute machen den Islam kaputt. Im Koran steht nichts von Krieg und Gewalt“, sagt Nafis Osmanoski.
Dennoch sieht er auch ein Problem darin, die jungen Radikalen nicht mehr aufzunehmen. Sie würden sich dann erst recht den einschlägigen Moscheen – etwa im Raum München und Ulm – zuwenden. Moscheen, die seit Jahren in den bayerischen Verfassungsschutzberichten auftauchen.
Eine, die als besonders salafistisch gilt, liegt in einem Wohngebiet. Die Fenster sind verhängt. Die Nachbarn haben kaum Kontakt zu denen, die nach drinnen gehen. Sie wissen nicht, was dort vor sich geht und was gepredigt wird. Die, die sich in der Szene auskennen, berichten von Seminaren mit radikalen Predigern. Es werde mehr oder weniger unverblümt zum Heiligen Krieg aufgerufen.
"Diese Leute machen den Islam kaputt"
Aber was kann die muslimische Gemeinschaft tun gegen die Radikalen in ihrer Mitte? In Kempten jedenfalls wollen die Muslime nicht länger nur zusehen. „Wir werden nach dem Ramadan eine Konferenz einberufen“, erzählen sie. Dazu geladen ist auch ein Vertreter aus Köln vom Dachverband der Türkisch-Islamischen Union. Man müsse verhindern, dass weitere junge Männer aus der Region in die Hände der Terrororganisation „Islamischer Staat im Irak und Syrien“ (Isis) fallen. Seit Monaten verbreitet die als besonders brutal geltende Organisation Angst und Schrecken in Syrien und dem Irak. David G. aus Kempten hatte sich in Syrien einer Isis-Einheit angeschlossen, bevor er im Januar erschossen wurde.
Derweil suchen staatliche Stellen nach Rezepten gegen die Radikalisierung junger Muslime. Die Innenministerkonferenz beschäftigt sich derzeit mit dem Thema Prävention. In Kempten fragen sich derweil viele, wie sie aussehen wird. In den Schulen und der Jugendarbeit, kritisieren sie, sei das Thema nicht angekommen. Es fehle an Wissen über die Salafisten. Und an passenden Hilfs- und Aussteigerprogrammen. Da müsse man ansetzen.
Aus dem bayerischen Innenministerium heißt es indessen: Noch in diesem Jahr soll eine neue Broschüre zum Salafismus erscheinen, die Ansprechpartner zu diesem Thema benennt und Hilfestellung gibt.