
Der Mann mit den 21 Geschwistern

Einige seiner Brüder und Schwestern hat Hermann Kistler nie kennengelernt. Der 73-Jährige war noch nicht auf der Welt, da war seine große Schwester schon Mutter. Von Evelin Ullmann
Andächtig und doch mitteilsam blättert der kräftige grauhaarige Hausherr in einem kleinen schwarzen Ringbuch. Die Hitze im Wintergarten ist ermüdend, aber es dauert nicht lange, bis er in seiner Vergangenheit verschwindet.
Draußen im Garten wartet ein verwaistes Trampolin auf spielende Kinder. Die sitzen an diesem heißen Tag aber lieber am Computer - und damit in ihrer eigenen Welt. Hermann Kistler hat zwei Töchter und vier Enkelkinder. Was in anderen Familien durchaus beachtlich wäre, ist für die Kistlers eher mager. Der 73-Jährige hatte 21 Geschwister, seine Eltern laut Stammbaum 58 Enkelkinder.
Jedem der 15 Brüder und sieben Schwestern ist in dem kleinen Ringbuch eine Seite gewidmet - mit eigenem Stammbaum. Kistler blättert alle Seiten einmal durch und weiß dann genau, wie die Antwort lauten muss, ohne dass der Gesprächspartner überhaupt eine Frage gestellt hätte. "Alle Kinder sind von derselben Mutter und demselben Vater. Es waren keine Zwillinge dabei", betont der Rentner aus Hohenzell.
Der 300-Seelen-Ort gehört zur Gemeinde Altomünster im Landkreis Dachau. Die Großfamilie wohnte früher in Eurasburg (Kreis Aichach-Friedberg), wo sie einen kleinen Bauernhof hatte. Von 1910 bis 1938 war Mutter Josefa (1890 bis 1961) nahezu permanent schwanger. Eine längere Pause gab es nur während des Ersten Weltkriegs.
So extrem groß kam Hermann Kistler seine Familie damals allerdings gar nicht vor. Er wurde 1936 geboren und war damit das zweitjüngste Kind seiner Eltern Josefa und Michael. Seine älteste Schwester Magdalena war mit 25 Jahren da bereits aus dem Haus. "Die Magdalena hat schon Kinder gehabt, da war ich noch gar nicht auf der Welt", erzählt Kistler. Er blättert auf ihren Eintrag im Familienbuch zurück und zählt seine Neffen und Nichten nach: Elf Kinder kommen allein bei Magdalena zusammen.
Etliche seiner Geschwister hat der Hohenzeller niemals kennengelernt. Einige starben kurz bzw. wenige Jahre nach der Geburt, andere kamen nicht mehr aus dem Krieg zurück. Vier Brüder wurden ihm so geraubt.
Richtig aufgewachsen ist der kleine Hermann "nur" mit vier seiner Geschwister. Doch das Leben in der siebenköpfigen Familie war hart genug. Seine Jugend fasst der 73-Jährige mit drei Worten zusammen: "Arbeiten, essen, beten." Gearbeitet wurde natürlich am meisten. Während Freunde nachmittags zum Baden gingen, mussten die Kistler-Kinder auf dem Feld schuften oder im Wald Gras für das Vieh rupfen. Hungern mussten sie zwar nie, erinnert sich der ehemalige Maurer, doch oft gab es nur trockenes Brot zu essen. Andere hatten wenigstens Butter darauf, sagt er.
Dann verdreht er die Augen ein wenig und drückt damit sein Unverständnis darüber aus, dass viele Kinder heute gar kein Fleisch mehr wollen. "Das richtig fette Schweinefleisch, das war für uns das Allergrößte", erzählt er. Heute isst der Senior mit der gesunden Gesichtsfarbe und dem spitzbübischen Lächeln lieber das magere Fleisch.
Gar nichts, sagt er, wünsche er sich aus der früheren Zeit zurück. Warum seine Eltern so viele Kinder haben wollten, "das weiß der Teufel", fügt er hinzu. Sie seien halt sehr christlich gewesen, Verhütung kam nicht infrage.
Als Hermann Kistler 1959 seine Frau Elisabeth geheiratet hat, waren sich die beiden von Anfang an einig, dass sie nur ein Kind haben wollen, um das sie sich liebevoll kümmern und dem sie auch etwas bieten wollten. Elisabeth hatte immerhin auch sieben Geschwister. Die Eheleute bekamen von zu Hause kaum etwas mit, als sie sich 1970 ihr eigenes Haus in Hohenzell bauten. Doch auf Tochter Elisabeth (50) folgte zehn Jahre später dann doch noch Tochter Claudia, die jetzt mit ihrem Mann und den drei Kindern mit im Haus der Eltern wohnt.
Hermann Kistler versteht durchaus, dass viele Paare heute weniger Kinder haben. Manche Gründe dafür leuchten ihm aber nicht ein. So hätten einige Frauen seiner Ansicht nach auch deshalb keine Kinder, weil sie sonst nicht mehr so oft in den Urlaub fahren könnten. Dabei sei es heute deutlich leichter, Kinder großzuziehen - Hilfen vom Staat gab es damals keine.
Der Kistler-Clan jedenfalls stirbt so schnell nicht aus, auch wenn von den einst 22 Geschwistern nur noch drei am Leben sind. Das "Küken" der Familie, Hermanns Schwester Kreszenz, ist heute 72 und lebt in Augsburg; die 80-jährige Schwester Viktoria wohnt in Wehringen im Landkreis Augsburg. Die Namen der Geschwister sind überschaubar geworden, die der Nichten und Neffen aber nicht. Dafür braucht Kistler sein kleines schwarzes Ringbuch. Es hilft ihm dabei, seine Familie zusammenzubringen. "Hier schaue ich alles nach, sonst bräuchte ich ja einen Computerkopf", sagt er.
Auch wenn er mit dem PC nichts anfangen kann, ein bisschen Bewunderung für die Welt seiner Enkel schwingt in seinen Worten doch mit. So kommt er ihnen manchmal vielleicht näher als er glaubt, auch wenn ihre Jugend eine ganz andere ist als seine vor 60 Jahren. Evelin Ullmann
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