Genesungsbegleiter helfen anderen, weil sie selbst ganz unten waren
Genesungsbegleiter helfen psychisch Kranken. Voraussetzung: Sie müssen eine Krise hinter sich haben. Wie Susanne Kragler. Depression und Alkohol hatten sie geschafft. So kam die Wende.
Es ist diese eine Frage, die Susanne Kragler, 46, bei ihrer neuen Aufgabe immer wieder bewegt: „Warum habe ich das geschafft – und andere schaffen es nicht?“ Susanne Kragler glaubt, dass sie viel Glück gehabt hat. Nach nur einer Therapie hat sie seit vielen Jahren ihre Depression im Griff und ist trockene Alkoholikerin. Sie ist wieder verheiratet und lebt in einem gepflegten Einfamilienhaus in einer kleinen Gemeinde im westlichen Landkreis Augsburg – so, wie sie sich das als junge Frau lange vorgestellt und gewünscht hatte.
Damals, als sie mit Mitte 20 allein mit zwei Kindern, vernebelt von ihrer Krankheit und vom Alkohol, in einer Wohnung lebte, in der zeitweise sogar der Strom abgedreht war, weil sie die Rechnungen nicht mehr bezahlen konnte. Die Ehe mit einem gewalttätigen Mann hatte sie da schon hinter sich, ihr Selbstbewusstsein war jedoch am Boden. In einer zweiten Beziehung kam ihre Tochter auf die Welt, der Alkohol war jedoch stärker als die neue Chance auf ein zweites Familienleben, sagt sie.
Und es kam noch schlimmer: Bei einem Krankenhausaufenthalt lernte sie einen neuen Mann kennen und ließ sich auf eine Beziehung mit einem Spielsüchtigen ein. Dem totalen Zusammenbruch folgten mit Anfang 30 der Aufenthalt in einem psychiatrischen Krankenhaus und eine Therapie. Seitdem ging es bergauf. „Ich möchte etwas von meinem Glück und von meinen Erfahrungen abgeben“, sagt sie heute. Deshalb hat sie sich für eine Ausbildung zur Genesungsbegleiterin entschieden. Sie hilft Menschen, die sich aktuell in einer ähnlichen Situation befinden wie sie selbst damals, auf ihrem Weg in ein neues Leben. Seit zwei Jahren bietet die Allgäu Akademie am Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren mit Unterstützung des Bezirks Schwaben die Kurse mit dem Titel „Ex-In“ an.
Selbstreflexion ist eine Voraussetzung
Ausgewählte Teilnehmer lernen hier, ihre eigenen Erfahrungen im Umgang mit anderen Kranken zu deren Nutzen einzubringen. Die Allgäu Akademie wählt die Teilnehmer aus. Die Psychiatriekrankenschwester und Mit-Kursleiterin Marion Heß aus Kaufbeuren sagt, dass Menschen, die sich aktuell in einer Krise befinden, nicht infrage kommen. Erst wer sich reflektiert mit der eigenen Krankheit auseinandersetzen könne, kann die Ausbildung beginnen. Die besteht aus Unterricht vor Ort, einem Fernstudium und auch einem Praktikum, beispielsweise in einer Tagesstätte für psychisch Kranke. „Die Genesungsbegleiter sollen eine Brücke sein zwischen den Patienten und dem medizinischen Personal“, beschreibt Heß. In psychiatrischen Krankenhäusern gibt es dafür bereits Stellen. Heß kann sich aber auch vorstellen, dass in Zukunft Genesungsbegleiter bei Betriebsräten in großen Firmen angesiedelt sind.
Das sieht auch Bezirksrätin Barbara Holzmann so. Auf der Abschlussveranstaltung des zweiten Ex-In-Kurses, die vor kurzem beim Bezirk in Augsburg stattfand, sagte sie: „Es gibt immer mehr Menschen, die im Laufe ihres Arbeitslebens erkranken – betriebliche Genesungsbegleiter wären hier die geeigneten Experten, die zur Prävention beitragen könnten.“ Gleichzeitig ist der Genesungsbegleiter als berufliches Ziel auch eine zweite Chance für die Teilnehmer, glaubt Christian Munz, der den Kurs gemeinsam mit Susanne Kragler abgeschlossen hat. „Arbeit ist mehr als Geldverdienen, sie beinhaltet Anerkennung der eigenen Qualitäten und schafft soziale Kontakte.“
Munz spricht ein Phänomen an, das auch Susanne Kragler kennt: Wer erst einmal an einer psychischen Krankheit leidet, fällt schnell aus allen sozialen Netzen: Arbeitsplatzverlust und Frühverrentung und damit der Weg in Einsamkeit und Armut gibt es bei vielen Erkrankten. Auch hier hat sie selbst Glück gehabt. Sie hat eine feste Arbeitsstelle, ihr Praktikum in einer Bezirksklinik absolviert sie im Urlaub. Je länger sie dabei sei, desto mehr werde ihr Beitrag nicht allein von den Patienten, sondern auch von Pflegern und Ärzten anerkannt. Auf Augenhöhe könne sie dort die Kranken begleiten – und vielleicht in dem einen oder anderen Moment auch für ein wenig Leichtigkeit sorgen. „Deren ganze Situation ist so traurig, aber jeder muss auch mal lachen.“ Nicht nur den Sinn, auch den „Blöd-Sinn“ im Leben suchen, Spaß und Freude gehörten für sie inzwischen zu einem gesunden Leben dazu. Für sich selbst kann sie sich eine Tätigkeit in der Klinik oder in der Nachsorge vorstellen.
Gleichzeitig wirbt sie darum, psychisch Kranken und auch Abhängigen mit der gleichen Achtung wie anderen Menschen zu begegnen: „Es ist so leicht, zu sagen, du bist selbst schuld, dass du Alkoholiker bist. Aber das Warum dahinter, wie es so weit kommen konnte, das wollen viele gar nicht wissen.“
Ab Juni 2016 wird der dritte Ex-In-Kurs angeboten. Informationen unter www.allgaeu-akademie.de.
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