Genügend Zeit zum Lesen, Rechnen und Schreiben
Mit einer flexiblen Lösung soll Kindern in Bayern der Schulstart erleichtert werden.
Stefanie Flache spricht von einem „sehr anspruchsvollen“ Projekt. Und das sagt sie nicht nach dem Studium dicker Akten. Sie berichtet aus ihrer täglichen Arbeit. Flache ist Lehrerin und unterrichtet an der Grund- und Mittelschule in Höchstädt (Landkreis Dillingen) jetzt im zweiten Jahr eine sogenannte flexible Grundschulklasse, in der Buben und Mädchen aus zwei Jahrgangsstufen zusammenkommen und gemeinsam lernen. Die Besonderheit ist, dass die Kinder in dieser Eingangsstufe ein, zwei oder drei Jahre bleiben können – je nachdem wie weit sie sind. So soll jedes Kind genügend Zeit haben, sich im Lesen, Rechnen und Schreiben stabile Grundkenntnisse anzueignen.
Höchstädt gehört zu den drei schwäbischen und 20 bayerischen Volksschulen, an denen in 51 Klassen das „Flex-Modell“ erprobt wird.
Die Initiatoren betrachten den Schulversuch bislang als Erfolg. „Die Schüler haben die individuellen Lernchancen der flexiblen Grundschule genutzt“, heißt es aus dem Kultusministerium. Rund ein Prozent der knapp 1100 Schülerinnen und Schüler des Startjahrgangs besucht nach einem Jahr bereits die dritte Jahrgangsstufe. Etwa vier Prozent benötigen für die Eingangsstufe drei Jahre. Einer überwältigenden Mehrheit (95 Prozent) gelingt das in zwei Jahren.
Versuch wird ausgeweitet
Im kommenden Herbst wird der Versuch auf 80 Grundschulen im Freistaat erweitert. „Wir haben den Eindruck, dass die flexible Grundschule gut angenommen wird“, sagt Ministeriumssprecherin Marion Rüller. Insgesamt gibt es 2563 bayerische Grundschulen.
Arbeiten in der Gruppe werden gerne angeboten, damit die Kinder gegenseitig von- und miteinander lernen und Antworten auf knifflige Fragen finden – zum Beispiel, wie Kastanien am besten angeordnet werden, um sie zu zählen. Schnell wird auch klar, wie weit die in der Regel Sechs- und Siebenjährigen sind – etwa wenn sie Buchstaben schreiben sollen. Der Erste müht sich mit Druckbuchstaben ab, der Zweite tut sich schwer, überhaupt etwas zuwege zu bringen, während der Dritte bereits die Schreibschrift ganz gut hinbekommt.
Auch eine reine erste Klasse, in der nur Abc-Schützen sind, ist alles andere als eine homogene Gruppe, sagt Flache. „Man spricht von Entwicklungsunterschieden von bis zu vier Jahren.“ In der flexiblen Grundschule seien die Unterschiede bei den Fertigkeiten und Kompetenzen der Buben und Mädchen noch größer. Genau dies sei die Herausforderung, weil man jedes Kind dort abholen müsse, wo es stehe.
Zwischen drei und fünf „Differenzierungsstunden“ werden aktuell pro Woche angeboten. Das bedeutet, dass dann eine zweite Lehrkraft zur Verfügung steht, um bestimmte Kinder zu fördern, denen zum Beispiel das Lerntempo zu hoch oder zu niedrig ist. Der Umfang dieser Differenzierungsstunden reicht nach Stefanie Flaches Einschätzung aber nicht aus. „Die Idealform ist grundsätzlich eine Doppelbesetzung.“ Von der „positiven Grundidee“ ist sie ebenso überzeugt wie der Höchstädter Schulrektor Georg Brenner. Seine Schule war erst zum Zuge gekommen, weil sich an einer anderen Grundschule die Eltern für das flexible Modell nicht begeistern konnten. „Manchmal ist es schön, zweite Wahl zu sein“, sagt er.
Neben personellen Fragen müssen an der Schule räumliche, materielle und mögliche fachliche Probleme gelöst sein, sagt Praktikerin Flache. „Für die Lehrkraft bedeutet es viel Arbeit und persönlichen Einsatz, wenn es gelingen soll.“
Ein Engagement, das sich offenbar lohnt, wie das Kultusministerium aus den Rückmeldungen der Schulen schließt: „Die Lehrkräfte haben das als Gewinn empfunden. Sie arbeiten mit den Schülern auf schönere Art und Weise.“ Auch der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband (BLLV) begrüßt die Ausweitung des neuen Grundschulmodells. Er will aber wissen, wann der bedarfsgerechte Ausbau abgeschlossen sein soll, und fordert deutlich mehr Geld und Personal für die flexiblen Grundschulen.
Was diese neue Form des Lernens den Kindern bringt, wird untersucht. Die Begleitung und Beratung hat mit dem Beginn des Modellversuchs im Schuljahr 2010/2011 ein wissenschaftlicher Beirat übernommen. Zu den fünf Professoren gehören mit Werner Wiater und Andreas Hartinger auch zwei der Universität Augsburg. "Kommentar
Die Diskussion ist geschlossen.