Rudi R.: Das Leben eines Berufsverbrechers
Er klaut, beleidigt, räumt einen Juwelier aus. Da ist Rudi R. noch jung. Dann tötet er einen Augsburger Streifenbeamten. Die Geschichte einer unglaublichen kriminellen Karriere.
Am Ende ist es ein Duell wie im Western. Wie Gut gegen Böse. Von Angesicht zu Angesicht. Sogar der Uhrzeiger wandert langsam gegen zwölf Uhr mittags, als Rechtsanwalt Walter Rubach, der Witwe und Schwester des erschossenen Polizeibeamten Mathias Vieth vertritt, als dieser Walter Rubach also dem Angeklagten Rudi R. direkt in die Augen blickt und ihn persönlich anspricht: „Sie behaupten doch immer, wir würden in einem faschistischen Staat leben. Ich sage Ihnen: Wenn wir in einem faschistischen Staat leben würden, dann säßen Sie heute nicht hier. Dann hätte man Sie nach Ihrem ersten Mord an einem Polizisten im Jahr 1975 einen Kopf kürzer gemacht.“
Es sind ungewöhnlich drastische Worte, wie sie von einem Juristen im Gerichtssaal selten zu hören sind. Und sie scheinen ihre Wirkung nicht zu verfehlen. Als Rudi R. zu seinem letzten Wort als Angeklagter anhebt, klingt er fast ein wenig kleinlaut: „Ich möchte noch einmal betonen, ich habe mit den mir vorgeworfenen Straftaten nichts zu tun. Ich kann das Gericht nur bitten, nicht den polemischen Äußerungen des Herrn Rubach zu folgen.“
Polizistenmörder Rudi R.: Schon als Teenager auffällig
Es sind ungewöhnlich demütige Worte von einem, der zu Prozessbeginn vor einem Jahr den Staatsanwalt noch als „Drecksack“ beschimpft hat. Der sich an keinem einzigen Verhandlungstag erhoben hat, um Respekt vor dem Gericht zu zeigen. Es sind eher die Worte eines Mannes, der im fortgeschrittenen Alter von 58 Jahren allen Grund zu der Befürchtung haben muss, dass er den Rest seines Lebens hinter Gittern verbringen wird.
Denn für Rudi R. dürften sich die Gefängnistüren für immer schließen. Er, der schon im Teenageralter durch Straftaten aufgefallen ist und am 6. März 1975 den Augsburger Polizisten Bernd-Dieter Kraus erschoss, wird am Donnerstag wahrscheinlich zum zweiten Mal in seinem Leben wegen des Mordes an einem Polizisten verurteilt. Er, Rudi R., soll am 28. Oktober 2011 auch den Polizeibeamten Mathias Vieth erschossen haben. Zusammen mit seinem Bruder Raimund M., 60. Doch der ist zurzeit wegen seiner Parkinson-Erkrankung verhandlungsunfähig. Der Prozess ist im November geplatzt. Er soll möglichst bald neu aufgerollt werden. Aber das ist eine andere Geschichte.
Für Rudi R. wird sich wahrscheinlich ein Kreis schließen. Ein Leben als Berufsverbrecher dürfte sein konsequentes, letztgültiges Ende im Gefängnis finden. Wie konnte es so weit kommen?
Rudi R.: Wie wurde er zum Berufsverbrecher?
R. wird geboren als Rudolf Helmut R. am 23. April 1955 in Falkenberg in Oberschlesien, das seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu Polen gehört. In der Familie R. wird Deutsch gesprochen, in der Schule lernt Rudi Polnisch. Als Dreijähriger wird er von einem Motorrad überfahren und schwer verletzt. Danach leidet er für viele Jahre an Kopfschmerzen und stottert oft.
Mitte der 60er Jahre siedelt die Familie nach Deutschland um. Rudi kommt in eine Förderschule und mit seinen zwei Brüdern ins Heim. Ein schlechter Schüler ist er nicht. Die Lehrer monieren jedoch immer wieder mangelnden Fleiß und zu wenig Sorgfalt. In Augsburg macht R. bei einer renommierten Autofirma eine Lehre zum Kfz-Mechaniker. Die praktische Prüfung besteht er, in der Theorie fällt er durch.
Beide Elternteile werden arbeitslos, auch Rudi geht Anfang der 70er Jahre keiner geregelten Arbeit nach. Stattdessen beginnt er mit seinem Kumpel Jovan S. langsam, aber stetig, eine kriminelle Laufbahn einzuschlagen. Die beiden begeistern sich für Autos und Waffen. Schon mit 17 besorgt sich Rudi R. illegal eine Pistole und führt sie in der Öffentlichkeit bei sich. Er wird dafür verurteilt. Zuvor haben er und Jovan schon in Läden geklaut und Kaugummiautomaten geknackt. 1974 wird R. für eine Unfallflucht mit Beleidigung verurteilt.
Im September 1974 wollen Rudi R. und Jovan S. in ein Augsburger Waffengeschäft einbrechen. Auch Raimund M. ist dabei. Sie werden ertappt und verurteilt. Kurz darauf bringen R. und S. eines Abends R.s Freundin nach Bad Wörishofen. Die Männer schlendern noch durch die Stadt und entdecken bei einem Juwelier schöne Uhren im Schaufenster. Spontan geht S. zum Auto und holt einen Hammer aus dem Kofferraum. Sie schlagen die Scheibe ein und nehmen drei Uhren an sich. In derselben Nacht kommen sie auf dem Heimweg durch Schwabmünchen. Dort holen sie sich bei einem Optiker auf dieselbe Weise zwei teure Ferngläser.
Kann das bis dahin vielleicht noch als Kleinkriminalität gewertet werden, nimmt das Drama am 5. März 1975 seinen Lauf. Rudi steht erst gegen 11 Uhr auf, geht am Nachmittag mit Jovan S. zum Augsburger Kuhsee. Am Kiosk trinkt Rudi ein Weißbier, Jovan ein Spezi. Auch abends sind die beiden zusammen, im Weizenbräustüberl in Friedberg isst Rudi eine Gulaschsuppe und eine Bratensulz, er trinkt eine Geißenmaß dazu.
Rudi R.: Bereits 1975 Mord an einem Polizisten
Dann brechen sie auf und steigen gegen 22.30 Uhr bei dem Autohaus ein, bei dem Rudi gearbeitet hat. Sie stehlen den BMW des Chefs, fahren damit nach Landsberg und überfallen dort den Wachposten der Ritter-von-Leeb-Kaserne. Sie nehmen dem Obergefreiten mit Waffengewalt seine Dienstpistole ab. Danach wollen sie die Tankstelle Augsburg-Nord überfallen. Doch das Benzin geht aus. Ein Streifenwagen entdeckt das Auto. Rudi steigt aus und eröffnet sofort das Feuer auf den Polizeiobermeister Bernd-Dieter Kraus. Der 31-Jährige stirbt. R. und S. werden noch in derselben Nacht festgenommen. Rudi R. hat sich in einer Mülltonne versteckt.
Im Juni 1976 wird Rudi R. zu zweimal lebenslänglich verurteilt, diese Strafe ist damals noch möglich. Doch aus lebenslänglich werden nur gut 19 Jahre Haft. 1995 kommt R. frei. Sein Bruder Raimund M. holt ihn in Bruchsal ab. Von da an scheinen die beiden Brüder wieder unzertrennlich. Oft werden sie bei gemeinsamen Spaziergängen gesehen, zum Beispiel am Friedberger Baggersee. Nach allem, was bekannt ist, bleibt Raimund M. während der gesamten Haftzeit seines Bruders sauber. Und dann?
In der Anklage gegen die Brüder heißt es, sie hätten spätestens am 6. Februar 2002 wieder gemeinsam ein Ding gedreht. In Ingolstadt sollen sie zusammen mit einem Komplizen ein Werttransport-Unternehmen überfallen haben. Ein Mitarbeiter wird mit einer Uzi-Maschinenpistole bedroht. Gesamtwert der Beute: fast 320 000 Euro. So soll es weitergegangen sein, mit Überfällen in den Jahren 2004, 2008 und im Mai 2011.
Auch in der Nacht zum 28. Oktober 2011 sollen die Brüder nach Überzeugung der Staatsanwaltschaft wieder einen Raubüberfall geplant haben. Zu diesem Zweck hätten sie sich auf einem Parkplatz nahe des Augsburger Kuhsees getroffen. In einer schwarzen Tasche dabei: zwei Kalaschnikow-Schnellfeuergewehre und zwei Pistolen.
Polizistenmord 2011: Rudi R. und Raimund M. festgenommen
Als die beiden auf ein Motorrad steigen, kommen die Polizeibeamten Mathias Vieth und Diana K. auf Streife vorbei. Doch statt einer regulären Kontrolle kommt es zu einer wilden Verfolgungsjagd durch den Siebentischwald. Am Ende liegt der zweifache Familienvater Vieth, 41, tot auf dem feuchten Waldboden. Die Kollegin K. überlebt mit Glück: Ein Schuss in den Rücken wird vom Reservemagazin abgefangen.
Zwei Monate später werden Rudi R. und Raimund M. festgenommen. R. wird von Spezialkräften überwältigt, als er im Auto an einer roten Ampel halten muss. Raimund M. wird in Friedberg gefasst. Die beiden unzertrennlichen Brüder werden sich mehr als ein Jahr lang nicht mehr sehen.
Erst im Gerichtssaal, am 21. Februar 2013, treffen sie wieder aufeinander. Und umarmen sich innig. Kein Zweifel. Diese beiden würden zusammenhalten, was auch immer kommt. So ist es nur konsequent, dass die Brüder im Prozess schweigen. Raimund M. kann sich nicht einmal dazu durchringen, seine Ehefrau und seine Tochter zu entlasten, die ebenfalls ins Visier der Justiz geraten. Die Tochter wird verurteilt, gegen die Frau läuft immer noch ein Verfahren. M. soll einmal vor Zeugen gesagt haben, zuallererst liebe er seinen Bruder und erst dann seine Frau und seine Tochter.
Polizistenmord: Rudi R. beschuldigt seinen Bruder Raimund M.
Umso überraschender sind dann die Plädoyers von Rudi R.s Verteidigern. Gebetsmühlenartig betonen Kai Wagler und Markus Meißner am Donnerstag vergangener Woche, dass ihr Mandant nicht am Tatort gewesen sei. Viel wahrscheinlicher sei doch, dass sein Bruder Raimund mit einem unbekannten Dritten die Tat verübt habe.
Und damit nicht genug: Sie liefern der Justiz sogar ganz konkrete Spuren, die für Raimund M. als Mörder sprächen: DNA-Spuren am Tatort, viele verdächtige Gegenstände, die im Lebensumfeld von M. gefunden wurden – nicht in dem seines Bruders.
Man könnte sagen, R.s Verteidiger haben den Bruder ans Messer geliefert, ihm die Schuld komplett in die Schuhe geschoben. Es ist kaum vorstellbar, dass diese Art der Argumentation nicht mit ihrem Mandanten abgesprochen war. Es ist schwer vorstellbar, wenn man sich die kriminelle Karriere von Rudi R. und das vertrauliche Verhältnis zu seinem Bruder vor Augen führt, dass Raimund M. die Tat ohne Rudi begangen haben könnte.
Schon eher ist es vorstellbar, dass diese Strategie das letzte Aufbäumen eines Berufsverbrechers ist, der weiß, dass er sein letztes Duell mit der Justiz bereits verloren hat.
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