Zeitreise in die Welt der Anstaltspsychiatrie
Robert Domes beleuchtet die Versorgung psychisch Kranker im Kloster Irsee von 1945 bis 1972. Ein bemerkenswerter Beitrag zur schwäbischen Heimatgeschichte
Die Versorgung von Menschen mit psychischen Problemen hat sich in den vergangenen 40 Jahren in unserer Region sicher verbessert. Auch wenn es stets noch viel zu tun gibt. Viel Veränderung bewirkte ab 1975 der in Fachkreisen sehr bekannte „Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland“ – auch „Psychiatrie-Enquete“ genannt. Danach beschloss man, ganz verkürzt gesagt, die zumeist sehr verschlossenen Riesenpsychiatrien zu dezentralisieren, so weit es geht zu öffnen und die Patienten in einem anderen Geist, sehr gespeist aus einer humanistischen Grundhaltung, zu betreuen. Wer sich nun ein sehr lebendiges Bild davon machen will, wie psychisch Kranke in Schwaben vor der Psychiatrie-Enquete behandelt wurden, dem seien die in einem Buch zusammengefassten Recherchen des Irseer Journalisten und Autors Robert Domes („Nebel im August“) ans Herz gelegt. Er hat in umfangreicher Kleinarbeit Zeitzeugen interviewt und das Leben in der psychiatrischen Klinik im Ostallgäuer Kloster Irsee nachgezeichnet. Der 56-Jährige beleuchtet die Jahre von 1945 bis zur Auflösung der Anstalt im Jahr 1972. Im Schnitt wurden dort 350 Patienten aus ganz Schwaben betreut.
Domes bedauert es sehr, dass er für seine Arbeit, die er im Auftrag des Bildungswerkes der bayerischen Bezirke angefertigt hat, keine Patienten als Zeitzeugen mehr finden konnte. Der Grund: Viele Patienten waren schon in den 1950er und 1960er Jahren älteren Semesters und leben wahrscheinlich nicht mehr. Dem Autor blieb nichts anderes übrig, als vor allem Pflegekräfte und Handwerker, die damals als junge Menschen (oft als Azubis) in Irsee arbeiteten, nach ihren Erinnerungen zu befragen.
Der Buchtitel nimmt die Quintessenz vorweg: „Wir waren wie eine große Familie.“ Geschildert wird ein letztlich eher geruhsames, aber sehr arbeitsreiches Leben direkt an der Seite der Patienten, von denen die Beschäftigten meist alle Marotten kannten. Das Personal lebte nicht selten selbst in den alten Klostermauern. Weil der Bezirk Schwaben alles Geld in die Modernisierung der Nervenheilanstalt im benachbarten Kaufbeuren transferierte, blieb die Einrichtung der Anstalt Irsee bis zu ihrer Schließung, die schon lange im Gespräch war, auf Vorkriegsniveau. Behandelt wurde mit den wenigen Medikamenten, die es damals gab, und mit der seinerzeit noch üblichen Schocktherapie. Die Patienten waren in großen Schlafsälen untergebracht. Die wichtigste Behandlung aber bestand in der Arbeitstherapie: Alle Patienten, die dazu in der Lage waren, mussten arbeiten – in der Hauswirtschaft, in der Landwirtschaft, teils bei Bauern im Dorf. Die oft positive Schilderung des Lebens in der Anstalt darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass vor allem der Einsatz der Patienten als billige Arbeitskräfte über viele Jahre den Erhalt der Einrichtung mitgesichert hat. Der eigentliche Zweck der Anstalt, die Pflege und (soweit überhaupt mögliche) Heilung der Menschen, wurde nachrangig. Domes weist auch zu Recht darauf hin, dass in Irsee im Dritten Reich 800 Menschen ermordet wurden, weil sie als lebensunwert galten.
Mit dem Buch ist dem Autor ein bemerkenswerter Beitrag zur Heimatgeschichte in Bayerisch-Schwaben gelungen. Die Interviews sind sehr authentisch und auch für Interessierte, die mit psychiatrischer Krankenversorgung nichts zu tun haben, sehr gut zu lesen.
„Wir waren wie eine große Familie. Die Anstalt Irsee zwischen Kriegsende und Auflösung“ von Robert Domes ist im Irseer Grizeto-Verlag erschienen. Das Buch hat 180 Seiten, kostet 13,80 Euro und ist im Buchhandel sowie im Kloster Irsee erhältlich.
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