Es hat gerade mal drei Grad und Pfarrkirchens Freie Wähler stehen da, wo sie seit 30 Jahren stehen im Wahlkampf: vor der örtlichen VR-Bank am Stadtplatz. Hinten, unter den Arkaden, ist ein einsamer Zeuge Jehovas zu sehen. Dann fährt ein überlebensgroßer Hubert Aiwanger vor. Das Plakat auf einem Anhänger, den ein weißer Tesla zieht, macht ein wenig mehr her als der schmale Stand, um den sich zu diesem Zeitpunkt rund ein Dutzend „Fwler“ schart.
Darum wirbt Aiwanger in Pfarrkirchen um Wählerstimmen
Hubert Aiwanger in Person trifft wenige Minuten später im Dienst-Siebener-BMW ein. Hut, feste Jacke – Bayerns Wirtschaftsminister und Freie-Wähler-Chef ist gerüstet für den Straßenwahlkampf, aber kämpfen muss er nicht am Stadtplatz von Pfarrkirchen. Hier ist er unter Freunden. Unter Menschen wie Gudrun Lukas. Bei den Freien Wählern ist sie schon zehn Jahre, für Aiwanger hat sie sich vergangenes Jahr nach einem Bierzelt-Auftritt begeistert. „Er spricht die Sorgen der normalen Bürger an und kümmert sich darum“, meint sie.
Kugelschreiber verteilen, Fotos machen, Hände schütteln. „Der Hubert“, wie sie ihn hier nennen, ist in seinem Element. Es ist Freitagvormittag, und um diese Zeit sind meist ältere Menschen auf der Straße. Sowie eine Gruppe Elftklässlerinnen. Die Teenager interviewen den Minister für ihre „Wissenschaftswoche“, und der Minister gibt brav Antwort. Er vergisst auch nicht zu erwähnen, dass die Freien Wähler dafür gesorgt hätten, dass es in Bayern wieder ein neunjähriges Gymnasium gibt. Ein älterer Herr kommt auf Aiwanger zu und ruft in breitem Niederbayerisch: „Das ist der Mann, der in Berlin aufräumen möchte.“ Er lacht laut – und sagt dann: „Da bin ich gespannt.“ Diese Bemerkung ist doppeldeutig, denn in ihr schwingt der Zweifel mit, ob Aiwanger es überhaupt bis Berlin schaffen wird.

Auch Spitzenkräfte der FW würden nicht Haus und Hof darauf wetten, dass diesmal der Sprung in den Bundestag gelingt. Sicher ist: Wenn, dann führt der Weg dorthin über Pfarrkirchen im Landkreis Rottal-Inn, Niederbayern. Weil die Aussicht auf bundesweit mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen gering ist, wollen es die FW über drei Direktmandate schaffen. Dann ist die Fünf-Prozent-Klausel außer Kraft, bis zu 25 Abgeordnete sind drin – so die Rechnung. Sorgen sollen dafür vier Hoffnungsträger. Die Landräte Indra Baier-Müller und Peter Dreier, der Gersthofer Bürgermeister Michael Wörle und eben Hubert Aiwanger. Vorsitzender der Freien Wähler, Wirtschaftsminister, stellvertretender Ministerpräsident in Bayern – und einfacher Bundestagskandidat.
Der Kurs von Aiwanger: rechts von der CSU
Inhaltlich fährt Aiwanger einen zum Teil schärferen Rechtskurs als die Union. Bürgergeld, Migration, Wirtschaft: Seine Kritik an der gescheiterten Ampel fällt oft noch ein Stück schriller aus als die von CDU und CSU: „Narrenschiff Berlin, du gehörst versenkt“, rief er neulich in einem Bierzelt in Rosenheim. Das erinnert an seinen berühmt-berüchtigten Ausspruch vom Sommer 2023 in Erding, als er dort davon sprach, man müsse die Demokratie zurückholen. Die vehemente Kritik an diesem Satz hat Aiwanger offenbar nicht beeindruckt, für ihn ist die damit verbundene Aufmerksamkeit die wichtigere Währung.
Als vergangene Woche Alt-Kanzlerin Angela Merkel CDU-Chef Friedrich Merz dafür kritisierte, dass dieser im Bundestag die Unterstützung der AfD in Kauf nahm und so ein politisches Beben auslöste, ging Aiwanger die frühere CDU-Bundeskanzlerin auf X frontal an: „Sie ist die Mutter der AfD, weil sie die unkontrollierte Zuwanderung eingeleitet hat.“ Das sieht nicht jeder in seiner Partei so. Der bayerische Digitalminister Fabian Mehring hält das Vorgehen von Merz für einen fatalen Fehler. In seinen privaten Social-Media-Kanälen schrieb Mehring, dass auch er eine Änderung in der Migrationspolitik befürworte, nicht aber die Unterstützung durch die AfD für ein Gesetz, das nicht einmal in Kraft getreten wäre, weil der Bundesrat nicht mitgespielt hätte. Mehring: „Das war ein historisch mieser PR-Gag zulasten der Integrität der politischen Mitte.“

Am Freitagabend dann: Neujahrsempfang der Freien Wähler auf dem Nockherberg in München. Hier ist Aiwanger unbestritten der Star. Wenige Stunden vorher scheiterte Merz mit seinem Zustrombegrenzungsgesetz im Bundestag – und Aiwanger sagt auf einmal Sätze, die ganz nach Merkel klingen. Es sei „beängstigend“, dass die demokratischen Parteien sich nicht auf einen Minimalkonsens hätten einigen können. Statt gemeinsam ein Zeichen zu setzen, „verfolgt jeder Maximalforderungen“, kritisiert er. Aiwanger träumt in Berlin von einer Regierung aus Union, FDP und FW – mit ihm als Bundeswirtschaftsminister. Sogar die Beteiligung an einer Minderheitsregierung könne er sich vorstellen. Die Meldung, dass er dafür eine Tolerierung durch die AfD in Kauf nehmen würde, die am Freitagabend kursiert, dementiert Aiwanger noch am selben Abend.
Aiwanger tritt gegen den bayerischen AfD-Chef Protschka an
In Rottal-Inn müsste er nach eigener Rechnung mehr als 30 Prozent der Erststimmen holen, dann könnte er die Nachfolge des langjährigen CSU-Abgeordneten Max Straubinger antreten, der aufhört. Unter den insgesamt neun Kandidaten für das Direktmandat ist neben dem neuen CSU-Bewerber Günter Baumgartner auch der bayerische AfD-Chef Stephan Protschka. Aiwanger baut auf seine große Popularität in Niederbayern, bei den Landtagswahlen erhielt er in der Gegend 40 Prozent der Zweitstimmen. Das ist zwar mehr als ein Jahr her, aber neulich beim Wachsmarkt seien zur Aiwanger mehr Menschen als zur CSU gekommen, erzählt Werner Schießl, örtlicher Landtagsabgeordneter der Freien Wähler. Bei der CSU wiederum erwähnen sie gerne, dass Aiwanger auch schon vor nur 30 Leuten gesprochen habe.
In Pfarrkirchen sind es am Freitag letztlich nicht viel mehr gewesen, mit denen der Minister in Kontakt kam. Er nimmt es sportlich: „Zurück zu den Wurzeln. Solche Veranstaltungen sind wichtig, um den Kontakt zu den Menschen zu behalten“, findet er. Nach einer Dreiviertelstunde muss er weiter. Der weiße Tesla, der sein Plakat zieht, fährt kurz nach ihm ab. Zurück bleiben Pfarrkirchens Freie Wähler. Dort, wo sie seit 30 Jahren stehen im Wahlkampf.
Wie sang doch Roy Orbison ... "Dream Baby" https://www.youtube.com/watch?v=4MXdzlTTmv8
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