Bücher für Blinde
In einer bayernweit einzigartigen Bibliothek können Sehbehinderte seit 60 Jahren kostenlos Hörbücher ausleihen. Warum diese Titel so besonders sind.
Nicht oder nur wenig sehen zu können, darf kein Grund dafür sein, nicht mehr an der Literatur teilhaben zu können. Seit 60 Jahren gibt es deshalb die Bayerische Hörbücherei. Blinde und Sehbehinderte können dort kostenlos Hörbücher ausleihen. Für die Geschäftsführerin dieser besonderen Einrichtung, Ruth Tiedge, ist Lesefreude auch Lebensfreude. Die Hörbücherei soll den Nutzern ermöglichen, mehr am kulturellen gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Tiedge erzählt zum Beispiel von blinden Eltern, die sich in der Hörbücherei die Jugendbücher ausleihen, die ihre sehenden Kinder gerade lesen. Dank der Hörbücherei können sie mehr Anteil am Leben ihrer Söhne und Töchter nehmen.
Tiedge erklärt auch, warum die Hörbücher aus dem Buchhandel kein ausreichendes Angebot für Blinde sind: Rund 80 bis 90 Prozent der für den kommerziellen Markt produzierten Hörbücher sind, im Gegensatz zu den Aufnahmen der Hörbücherei stark gekürzt. So sparen die Verlage Geld. Denn bei kürzeren Texten müssen sie ihre oft prominenten Sprecher nicht so lang beschäftigen.
Eine Reihe technischer Neuerungen haben dazu beigetragen, dass die 1958 gegründete Hörbücherei ihr Programm um rund das 200-fache vergrößern konnte. Gestartet ist das Verleihangebot damals mit 200 Titeln. Heute stehen den Nutzern fast 40000 Werke zur Verfügung. Bis in die 70er Jahre wurden die Hörbücher in Form von Tonbändern an die Hörer in Bayern verschickt. Dann kamen Kassetten. „Auch das waren noch riesige Pakete“, erzählt Tiedge. Ein Buch passe im Schnitt auf zehn bis zwölf Kassetten. Erst die MP3-CDs waren groß genug, dass ein ganzes Buch auf eine einzige CD passte. Das machte die ganze Sache auch deshalb einfacher, weil nun auch das langwierige Suchen beim CD- oder Kassettenwechsel wegfiel.
Heute entstehen bei der Hörbücherei in München in fünf Tonstudios rund 250 bis 300 neue Titel pro Jahr. In Deutschland gibt es noch sechs, in Österreich und der Schweiz jeweils eine weitere solcher Bibliotheken. Mit allen arbeitet die Münchner Organisation zusammen und tauscht sich aus. Auch dadurch wächst das Angebot für die bayerischen Nutzer. Denn während in München nur Bücher produziert werden, wird in der Marburger Hörbücherei auch die jeweils aktuelle Ausgabe des Nachrichtenmagazins Spiegel eingelesen und die Münster die Wochenzeitung Die Zeit.
In München entscheidet eine Lektorin anhand der aktuellen Verlagsveröffentlichungen und der Bestsellerlisten, welche Texte vertont werden. Wie bei den gedruckten Büchern seien derzeit auch in der Hörbücherei bayerische Regionalkrimis sehr beliebt, sagt Tiedge. Aber auch weniger stark nachgefragte Sachbücher werden eingelesen. Das sei besonders wichtig, weil es die häufig nicht einmal in gekürzter Fassung als Hörbuch zu kaufen gibt, sagt Geschäftsführerin Tiedge.
Wie eine normale Stadtbibliothek soll auch die Hörbücherei für ihre Nutzer günstig sein. Blinde können die Bücher dort sogar kostenlos leihen. Die Hörbücherei darf aber nur nutzen, wer gedruckte Texte nicht mehr lesen kann. Das muss der Betroffene mit einem Attest nachweisen. Als gemeinnütziger und staatlich geförderter Verein dürfe die Hörbücherei ihr Angebot für nicht sehbehinderte Menschen nicht zugänglich machen, erklärt Tiedge. Geld bekomme der Verein unter anderem vom bayerischen Sozialministerium, dem Bezirkstag und dem Bayerischen Blindenbund. Auch Spenden sind eine wichtige Einnahmequelle für die Hörbücherei. Spender können zum Beispiel als Buchpate für die Produktion eines bestimmten Titels bezahlen.
Wer Bücher ausleihen will, kann sie heute ganz einfach telefonisch oder auf der Website der Hörbücherei bestellen. Die CDs werden dann per Blindensendung verschickt und müssen nach Ende der vierwöchigen Leihfrist zurückgesandt werden.
Ein Grundsatz der Hörbücherei ist es, Texte nicht zu ändern. Die Literatur soll den blinden und sehbehinderten Nutzern unverfälscht zugänglich sein, sagt Tiedge. Auf Bilder beziehungsweise deren Beschreibungen werde in der Hörbücherei deshalb weitgehend verzichtet. „Jede Beschreibung ist auch eine Interpretation“, erklärt sie.
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