Was genau in jener Nacht des 9. Februar 2024 passiert ist, ist auch nach mehr als sieben Stunden Gerichtsprozess nicht ganz klar. Eines aber wird zum Schluss deutlich: Die beiden Seiten, die sich hier gegenüberstehen, könnten nicht weiter auseinanderliegen. Die Staatsanwaltschaft sieht ihre Sicht der Dinge bestätigt und fordert eine Haftstrafe, Verteidiger Alexander Wilhelm hingegen will einen Freispruch, wirft dem Staatsanwalt sogar psychologische Tricks vor.
Auf der Anklagebank im Dillinger Amtsgericht sitzt an diesem Tag ein inzwischen 28-jähriger Mann, der aus Afghanistan stammt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm sexuelle Nötigung vor. Er soll am Rande des Nachtumzugs im vergangenen Jahr, als hunderte Besucherinnen und Besucher auf dem Festplatz in Dillingen feierten, eine junge Frau gegen ihren Willen auf den Mund und die Wange geküsst, sie festgehalten und an Oberschenkel und Brust berührt haben. Nur sieht er das alles ganz anders.
Der Angeklagte konnte sich kaum verständigen
In seiner Aussage, die von einem Dolmetscher übersetzt wird, erzählt er von dem Abend: Er habe sich mit einem Freund getroffen, sie hätten Bier gekauft und versucht, mit jungen Leuten ins Gespräch zu kommen. Er habe sich auf die Fensterbank des ehemaligen Autohauses nahe der Donaubrücke gesetzt und mit der jungen Frau gesprochen. Der 28-Jährige war damals noch neu in Deutschland, konnte sich kaum verständigen. Die Vorwürfe gegen sich kann er nicht nachvollziehen. Als Richterin Beate Bernard wissen will, ob die junge Frau gern mit ihm gesprochen habe, antwortet er: „Was ich gefragt habe, hat sie beantwortet.“
Der Staatsanwalt glaubt ihm offenbar wenig und erhöht den Druck: Bei sexueller Nötigung stehe eine Mindeststrafe von einem Jahr Haft in Aussicht, Bewährung gebe es nur bei einem vollumfänglichen Geständnis. Die Geschädigte sei glaubhaft, die Aussage seines Freundes, mit dem er den Abend verbracht habe, weniger. Das entnimmt der Staatsanwalt wohlgemerkt den Akten, vor Gericht hat da noch niemand ausgesagt. Nach einer längeren Beratung zwischen Verteidiger Wilhelm und dem Angeklagten geht es dann weiter. Ohne Geständnis. Der 28-Jährige wird noch mit einigen Fragen gelöchert, dann tritt die junge Frau auf, die er angefasst haben soll.
Die junge Frau erkennt den Angeklagten nicht wieder
Die heute 18-Jährige kann auch auf mehrmalige Fragen nicht sicher sagen, ob der Mann auf der Anklagebank auch der Mann von der Fensterbank ist. Sie sei dort allein gesessen, weil sie auf ihre Freunde gewartet habe. Der Mann sei auf sie zugekommen, habe sie angesprochen. „Er hat ein bisschen genervt dann“, sagt sie. Er sei aufdringlich geworden, sie habe ihm deutlich signalisiert, dass er sie in Ruhe lassen solle. „Dann hat er mich angefasst und weiter gefragt.“ Vieles bleibt auch in ihrer Aussage unklar. So kann die junge Frau zunächst nicht sicher sagen, ob er sie auch auf den Mund geküsst oder wie lange das alles gedauert habe. Aufgehört habe er erst, und das wohl zufällig, als ihre Freunde vom Festplatz kamen.
In diesem Prozess geht es um viele Details und um sehr viele Widersprüche. Manche davon kann man wohl der Sprachbarriere anlasten, andere den Erinnerungslücken der Beteiligten. So sagt der Angeklagte aus, auf der Fensterbank hätten noch einige Menschen gesessen, die Geschädigte jedoch spricht nur von einem anderen Mädchen. Auch steht die Frage im Raum, was der Freund des Angeklagten mitbekommen hat. Sie seien den ganzen Abend zusammen gewesen, sagt der aus. Dann heißt es wieder, er sei ein Mal oder doch ein paar Mal allein zur Toilette gegangen. Bei einigen Nachfragen weicht er aus, sagt, er könne sich nicht erinnern.

Ein weiteres Problem: Als die Geschädigte bei der Polizei ihre Aussage machte und Videomaterial von der Tankstelle vorgelegt bekam, hat sie zunächst den Freund des Angeklagten, nicht den Angeklagten als Täter benannt. Erst auf den Hinweis des Polizisten hin korrigierte sie diese Aussage. Auf den Videos sind die beiden und die Freundesgruppe der damals 17-Jährigen zu sehen, die Tat selbst nicht.
Am Ende bleibt die Frage, wessen Aussage wohl glaubwürdiger ist. Der Staatsanwalt sieht die Vorwürfe „in vollem Umfang bestätigt“. Die junge Frau habe „ohne jeglichen Belastungseifer“ ausgesagt, ihre Darstellung sei glaubwürdig. Dass sie nach dem Vorfall gezittert und geweint habe, wie es ihre Freundin aussagte, sieht er als Bestätigung. „Das ist keine Reaktion, die man willkürlich herbeiführen kann.“ Über den anderen Zeugen, den Freund des Angeklagten, sagt er nur: „Dem kann ich in keinster Weise Glauben schenken.“ Er fordert ein Jahr und elf Monate Haft, ohne Bewährung.
Wollte die Staatsanwaltschaft den Angeklagten zum Geständnis bewegen?
Rechtsanwalt Alexander Wilhelm sieht das anders. Er wirft der Staatsanwaltschaft vor, die Erinnerungslücken der Beteiligten unterschiedlich zu bewerten. Auch die Geschädigte könne sich an vieles nicht erinnern. „Es ist sehr, sehr schwierig, zu bewerten, was passiert ist. Wir wissen es nicht.“ Es sei auch „absolut möglich“, dass eine dritte Person beteiligt war. Wilhelm sieht in der Aussage der Geschädigten eine „merkwürdige Ansammlung von Zufällen“, etwa, weil der Täter aufgehört haben soll, als ihre Freunde zurückkamen. Mit einem psychologischen Trick habe die Staatsanwaltschaft von Anfang an versucht, den Angeklagten zu einem Geständnis zu bewegen. Ans Schöffengericht gewandt, sagt er: „Überlegen Sie sich genau, ob sie eindeutig von seiner Schuld überzeugt sein können.“
Vor der Urteilsverkündung betont der Angeklagte noch einmal seine Unschuld. Er sei nach Deutschland gekommen, über viele Hürden, um sich ein Leben aufzubauen. Er könne nicht beweisen, dass er nichts getan hat. Aber: „Ich schwöre, dass alles, was ich erzählt habe, so passiert ist.“
Am Ende wird er zu einem Jahr Haft verurteilt, ausgesetzt auf drei Jahre Bewährung. Außerdem muss er 1600 Euro an die Suchtfachambulanz zahlen. Das Gericht glaubt der Geschädigten, auch die Richterin und die beiden Schöffen erkennen bei ihr keinen Belastungseifer. „Wenn sie ihn fälschlich belasten wollen würde, hätte sie ihn ja gleich erkannt“, sagt Bernard. Auch habe sie erkennbar nicht Falsches über die Tat sagen wollen.
Um kommentieren zu können, müssen Sie angemeldet sein.
Registrieren sie sichSie haben ein Konto? Hier anmelden