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Betrachtung
24.03.2018

Helden? Wahrheit und Mythos von 1968

Demonstranten mit Bildern von Ho Tschi-Minh, Karl Marx und Che Guevara: Die politischen Idole der 68er-Generation standen gegen die "imperialistische" Politik der USA.
Foto: Gerhard Rauchwetter, dpa

Deutschland erlebte vor 50 Jahren eine Kulturrevolution. Warum sie notwendig war, was sie wirklich gebracht hat - und wie sie bis heute fortwirkt.

Es gibt Jahre, die die Welt umkrempeln und eine historische Zäsur markieren. Jahre, die im Gedächtnis der Menschen gespeichert bleiben und die Zukunft ganzer Gesellschaften prägen. Jahre, nach denen nie mehr alles so ist, wie es vorher war. 1968 war so ein herausragendes Jahr. Es steht für jene 68er-Bewegung, die Gesicht und Mentalität der Republik verändert und verkrustete Strukturen aufgebrochen hat. "1968" ist zur Chiffre einer Generationenrevolte geworden, die mit ihren tollkühnen Umsturzplänen scheiterte und doch eine gewaltige gesellschaftspolitische Wirkung erzeugte. "1968" ist ein Mythos, der noch heute, ein halbes Jahrhundert danach, die Fantasie und den öffentlichen Disput beflügelt.

Wie würde Deutschland heute ohne die 68er-Bewegung wohl aussehen?

Ein Mythos lebt von alten Geschichten und Heldensagen. Und wir, die 68er, die wir nun schon in Rente oder kurz davor sind und überwiegend die Früchte eines langen Erwerbslebens im Dienste des in jungen Jahren verhassten "Systems" genießen, erzählen die alten Geschichten immer wieder gerne. Wie es damals wirklich gewesen ist, was wir erreicht haben und wie schlimm es heute um Deutschland stünde, wenn wir nicht aufbegehrt hätten gegen erstarrte Institutionen, "faschistoide" Tendenzen und eine im Glück des Wohlstands versunkene, über ihren Tellerrand nicht mehr hinausschauende Gesellschaft.

Diese alten schönen Geschichten erzählen von einer Generation, die ihr Schicksal in die Hand nehmen wollte und sich nicht, wie es angeblich die Jugend heutzutage tut, mit dem Vorgefundenen begnügt, sich nicht wirklich einmischt in die Politik. All diese schönen Geschichten handeln von der Hoffnung auf eine bessere, friedlichere, gerechtere Welt und der Befreiung des Menschen aus den Zwängen eines kapitalistischen Systems und einer stockkonservativen, autoritären Gesellschaft. Wir träumten vom "neuen Menschen", von der Gleichberechtigung der Frauen, von unmittelbarer Demokratie oder, ja, auch das, von gutem Sex nach dem Motto: "Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment." Ganz so wild übrigens, wie das polygame Leben in der legendären "Kommune 1" um Fritz Teufel und Uschi Obermaier und die Sprüche der Jünger des Orgasmus-Herolds Wilhelm Reich suggerierten, war das mit dem Sex und den Drogen nicht. "Die Mehrheit war doch", wie der Studentenführer Daniel Cohn-Bendit gestanden hat, "ziemlich verklemmt." Ganz Kinder ihrer Zeit halt – aufgewachsen in einer Gesellschaft, in der nichteheliche Kinder eine Schande waren, die Pille eben erst erfunden war, homosexuelle Handlungen mit Strafe belegt waren und Vermieter Gefahr liefen, wegen eines nächtlichen Damen- oder Herrenbesuchs der "Kuppelei" bezichtigt zu werden. Aber so ist das halt mit den alten, zur Verklärung neigenden Geschichten. Die 68er stammten im Regelfall aus bürgerlichen, gut situierten Verhältnissen und schleppten den dort herrschenden Moralkodex mit sich herum. Sich davon in der Praxis zu lösen, fiel auch der selbst ernannten Avantgarde des historischen Fortschritts ziemlich schwer.

Vor rund 2000 Studenten an der Freien Universität Berlin spricht Daniel Cohn-Bendit: „Das ist nicht nur euer Kampf, sondern auch der Kampf der Nicht-Priviligierten.“
Foto: Konrad Giehr, dpa

Ich war 1968, als in der ganzen westlichen Welt die Proteste gegen das "System", die kapitalistische Wirtschaftsordnung und den Vietnam-Krieg der "US-Imperialisten" aufbrandeten und in den Metropolen Hunderttausende demonstrierten, 17 Jahre alt und Schüler in einem katholischem Gymnasium. Der klassische 68er war ein paar Jahre älter und Student. Und natürlich war in der beschaulichen schwäbischen Kleinstadt Illertissen, wo ich geboren und aufgewachsen bin, von der weltweiten Revolte wenig zu spüren. Die meisten Bürger registrierten, was in Paris oder in Westberlin, dem Zentrum des deutschen Aufruhrs, los war – und fanden ziemlich schaurig, was sich da plötzlich abspielte in der bis dahin ruhigen, von einer sehr Großen Koalition regierten Republik.

Sie schauten beunruhigt in die USA, wo es nach dem Mord an dem schwarzen Bürgerrechtler Martin Luther King zu massiven Protesten kam und der Widerstand gegen den Vietnam-Krieg eskalierte. Sie verfolgten entsetzt, wie der Warschauer Pakt unter Führung der Sowjetunion in die Tschechoslowakei einmarschierte und Dubceks "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" liquidierte. Aber so stürmisch dieses Jahr auch war: In Illertissen nahm das Leben, wie in den meisten Regionen des Landes, seinen gewohnten Gang. "1968" war ja das Werk einer großstädtischen, akademischen, intellektuellen Elite, die – insbesondere auch im Kampf gegen die Notstandsgesetze der Regierung – Zehntausende auf die Straße brachte, deren aktivistischer Kern jedoch nur aus einigen tausend Menschen bestand. Die Speerspitze dieser Außerparlamentarischen Opposition bildete der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), der mit seinen "sit-ins", Hörsaal-Besetzungen und teils gewalttätigen Aktionen die Universitäten aufmischte und gegen die "Springer-Presse" mobilmachte. Ich verfolgte das fasziniert und studierte die Pamphlete, Reden und Schriften der SDS-Führer und ihrer ideologischen Wegbereiter. Ich fuhr nach Ulm, als dort die Brüder Wolff, zwei Ikonen des SDS, aufkreuzten und die Revolution predigten. Ich fand Rudi Dutschke, den charismatischen, beredsamen SDS-Wortführer gut – und war maßlos entsetzt über das Attentat auf Dutschke, das im April von einem Rechtsextremen verübt wurde. Er überlebte mit schweren Kopfverletzungen und erlag 1979 den Folgen des Anschlags.

Die Große Proletarische Kulturrevolution, die Mao in China ausgerufen hat, ist zum Bürgerkrieg geworden. Schätzungen gehen von insgesamt 400 000 Todesopfern im gesamte Land aus, dazu kommen Millionen Folteropfer und Vertriebene.
Foto: UPI, dpa

In Illertissen gab es keine "Apo", wohl aber einen kleinen Kreis von 68ern, denen die antiautoritäre Stoßrichtung der Proteste gefiel und die den örtlichen Institutionen und Etablierten den Spiegel vorhalten wollten. Ich gehörte dazu und war beseelt vom Geist der 68er-Bewegung und der Idee, die Gesellschaft grundlegend umzubauen. Ich stand links, ohne mit einer der kommunistischen, trotzkistischen, anarchistischen Fraktionen des alsbald sich selbst zerlegenden SDS zu sympathisieren. Ich war, um in der Diktion des SDS zu reden, unverbesserlicher "Reformist" und kein Revolutionär. Einer, der beim FV Illertissen passabel Fußball spielte, bei der Lokalzeitung mitarbeitete, gern nächtelang diskutierte, zum Ärger der Mutter die Haare sehr lang trug und mit seinem Leben eigentlich ganz zufrieden war. Aber ich wollte meinen kleinen Beitrag dazu leisten, damit es fortan liberaler und demokratischer zuging in diesem Land und die Leute, die Illertisser, irgendwie wachgerüttelt wurden.

Ich verweigerte den Kriegsdienst und gründete im Stadel neben unserem Wohnhaus ein Büro für Kriegsdienstverweigerung, das auch wegen des regen Zuspruchs gleichgesinnter Kameradinnen einigen Anstoß in Illertissen erregte. Wir ließen uns, Gitarre spielend und die Rolling Stones hörend, auf dem Marktplatz nieder, gerne auch mit Raucherwaren – für damalige Verhältnisse ein unerhörtes Happening. Wir demonstrierten sonntags in abgerissenen Klamotten vor der katholischen Kirche und drückten den verdutzten, teils empörten Gottesdienstbesuchern Flugblätter in die Hand, in deren Texten scharf abgerechnet wurde mit der "repressiven" Rolle der Kirche. Ich schrieb Leserbriefe, die – so in einem vor Moral nur so triefenden Exemplar von Anfang 1970, als der Aufstand längst vorbei war – die Ausbeutung der Dritten Welt anprangerten. Ich hielt Vorträge in Schulen und betete dabei nach, was ich in den Büchern der Vordenker gelesen hatte. Herbert Marcuse, Adorno, Frantz Fanon – das ganze Programm.

Marcuse löste in seinem "Eindimensionalen Menschen" das Rätsel, warum die einfachen Menschen und die Arbeiter (wovon ich mich bei Ferienarbeiten am Fließband überzeugen konnte) so gar nichts von den Parolen der Bewegung hielten und die 68er für Spinner und Wohlstandsbürgersöhnchen – nun ja, sie wussten es nicht besser, weil sie von einer gut geölten Maschine aus Regierung, Massenmedien, Sachzwängen und Konsumterror "manipuliert" waren. Oder Fanon, der den Aufstand gegen die Kolonialherren predigte – was wunderbar korrespondierte mit der Liebe der 68er zu ihren Heroen, den vermeintlichen Freiheitskämpfern Mao, Ho Chi Minh oder Pol Pot, deren teils monströse Verbrechen kein Wort der Kritik auslösten. Ich legte mich natürlich mit der Schulleitung an, weil ja – ein Grundgesetz der 68er – jede Institution in Frage zu stellen war und Werte wie Pflicht, Fleiß und Pünktlichkeit als unnütze, der Abrichtung des Menschen dienende "Sekundärtugenden" galten. Ich musste das Kolleg verlassen und besuchte, nicht ohne einen gewissen Stolz auf meinen Ruf als eloquenter Rebell, zwei weitere Gymnasien, ehe ich in Augsburg den Beruf des Journalisten ergreifen durfte.

Aus dem von den 68ern geforderte Umsturz ist nichts geworden

Schaue ich heute auf diese bewegte Zeit des Sturms und Drangs zurück, so gibt es nichts zu bereuen – mit Ausnahme jener Selbstgerechtigkeit, die vielen 68ern eigen war und sich gerade auch gegenüber den Eltern zeigte. Im Nachhinein finde ich, dass wir mit der Generation, die den Krieg erlebt und das zerstörte Land in atemberaubendem Tempo wieder aufgebaut hat, nicht fair umgesprungen sind. Ja, die Nazi-Vergangenheit Deutschlands musste endlich offen zur Sprache kommen, die Lektion daraus gelernt werden. Aber wir waren mit dem Vorwurf an die Väter, sie hätten sich gewissenlos in den Dienst eines verbrecherischen Regimes gestellt, als Soldaten gemordet und keinen Widerstand geleistet, zu rasch und zu unüberlegt bei der Hand. Es stimmt ja: Die Väter sind der Diskussion über ihre persönliche Schuld ausgewichen, auch meiner, ein Bundesbahnbeamter. Er war mit 17 zur Waffen-SS eingezogen worden und ließ meine Fragen unbeantwortet. Ich wertete, ganz Ankläger, das Schweigen als Eingeständnis schwerer Schuld. Aber vielleicht hat er, wie ich heute glaube, nur geschwiegen, weil er Gefühle nicht ausdrücken, sich nicht erklären konnte und den schon feststehenden Urteilsspruch fürchtete.

Ich maße mir nicht an, damals als sehr junger Mann weiter gesehen zu haben als viele der älteren, rund acht Millionen zählenden 68er aus den Jahrgängen 1940 bis 1950. Aber ich bin doch, bei aller Begeisterung über den Aufbruch, früh auf Distanz gegangen zu einigen Kernpunkten der Bewegung. Es gab vieles, was mir nicht einleuchtete und viel zu radikal erschien. Da war die brutale Attacke auf die Familie, die zur Keimzelle der Unterdrückung erklärt wurde und zerstört werden sollte. Da war das Schweigen der 68er zum sowjetischen Einmarsch in die CSSR, der von der einseitigen Fixierung auf das Feindbild USA zeugte. Da war der gnadenlos kalte, völlig respektlose Umgang mit Andersdenkenden und Hochschullehrern. Da war die Verachtung für den ganz normalen Menschen, der das revolutionäre Dauergequassel nicht verstehen konnte oder wollte.

Der SDS-Chefideologe Rudi Dutschke (Mitte, mit erhobener Faust), sowie der Schriftsteller Erich Fried (links) marschieren in Berlin an der Spitze einer Demonstration mit rund 12 000 Teilnehmern gegen den Vietnamkrieg mit.
Foto: Chris Hoffmann, dpa

Da war das Akzeptieren totalitärer Systeme, wenn sie auf der "richtigen", der ganz linken Seite standen. Und was sollte eigentlich an die Stelle des Systems der Sozialen Marktwirtschaft treten, wie der Traum – und um welchen Preis – von einer hierarchiefreien Gesellschaft lauter selbstbestimmter Menschen wahr werden? Die Dutschkes, Rabehls und Krahls hatten keine Antwort darauf. Und wer genau hinschaute, der konnte die angeblich legitime "Gewalt gegen Sachen" schon 1968 – damals fanden die ersten Anschläge auf Kaufhäuser statt – als gefährliches Spiel mit dem Feuer einschätzen. Es waren versprengte Truppen der 68er-Bewegung, die den Boden für den Terrorismus der "Rote Armee Fraktion" (RAF) bereiteten, dem bis 1998 mehr als 30 Menschen zum Opfer fielen.

1968 hat dem Land, alles in allem besehen, gutgetan

Aus dem Umsturz des Systems, den die radikalen 68er wollten, ist nichts geworden. Im Gegenteil: Das demokratische System ging gefestigter aus den Schlachten des Jahres 1968 hervor. Schon im Jahr darauf kam die sozialliberale Koalition mit Willy Brandt an die Macht, der "mehr Demokratie" wagen wollte und damit Zeugnis ablegte von dem gründlich veränderten gesellschaftlichen Klima, das fortan eine Fülle von Reformen ermöglichte. "1968" hat dem Land, alles in allem besehen, gutgetan. Es ist liberaler, weltoffener geworden und wurde, was von Zeit zu Zeit nötig ist, gründlich durchlüftet. Die 68er haben viel von dem angestoßen, was uns heute lieb und teuer ist: die Gleichberechtigung der Geschlechter, den Umweltschutz, mehr Mitsprache für die Bürger, ein Bildungssystem, das auf die Erziehung zu mündigen Menschen angelegt ist. Sowohl die Grünen als auch die Frauen- und Friedensbewegung haben ihre Wurzeln in jenem rebellischen Jahrzehnt, das 1968 an seinen Höhepunkt gelangte.

Die grau gewordenen 68er, so ist das mit den alten Heldengeschichten, neigen dazu, ihren Einfluss auf den Gang der Dinge zu überschätzen. Aber wer will im Ernst leugnen, dass sie eine Kulturrevolution in Gang gebracht und den Konservativen in gesellschaftspolitischen Fragen die Meinungsführerschaft entwunden haben – in einem langen Prozess, der im Jahre 1998 zu einer rot-grünen Regierung und damit zu einer Machtübernahme von Alt-68ern führte? Allen voran Joschka Fischer, der ehemalige Straßenkämpfer, der zum angesehenen Außenminister wurde und im Ruhestand gutes Geld als Lobbyist von Großkonzernen verdient.

Fischer hatte, wie die meisten 68er, den "Marsch durch die Institutionen" angetreten und seinen Frieden mit den Verhältnissen gemacht. Und ich? Ich habe das ähnlich gehalten, bald geheiratet, mein Glück mit einer wunderbaren Familie gefunden, 48 Jahre für diese Zeitung gearbeitet – und in all dieser Zeit von jenem unbedingten Interesse an den Zeitläuften gezehrt, das durch "1968" ausgelöst wurde.

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