Diese Probleme teilen sich Eltern in Deutschland und Frankreich
Frauen in Frankreich bringen Kind und Beruf locker unter einen Hut, heißt es. Ach ja? In Wirklichkeit eint französische und deutsche Eltern dasselbe Schicksal.
„Das alles war nicht so geplant.“ Isabelle Dupont blickt nach unten auf das Baby in ihrem Arm, dann wieder hoch und zeigt das für sie so typische Strahlen. „Das alles“, damit meint sie Emma, fast acht Monate alt, mit rundem Kopf und runden Wangen. Ein „Überraschungskind“, dessen überforderter Vater sich im Laufe der Schwangerschaft zurückzog, bis er irgendwann nur noch in Form unregelmäßiger SMS-Nachrichten und geringer Geld-Überweisungen präsent war.
„Alleinerziehend und allein verantwortlich für ein kleines Wesen – so hatte ich mir mein Leben eigentlich nicht vorgestellt“, sagt Isabelle Dupont, die ihren wirklichen Namen lieber nicht lesen will. „Aber als ich schwanger war, dachte ich, wenigstens wird es einer Frau in meiner Situation in Frankreich einfacher gemacht, weil es Betreuungsplätze und Strukturen gibt, um weiterarbeiten zu können.“ Ganz so einfach war es dann aber nicht – entgegen dem Ruf des Landes als Kinderbetreuungs-Paradies.
Als selbstständige Grafikerin hatte die Französin – ebenso wie Angestellte – Anspruch auf maximal 112 Tage Mutterschaftsgeld durch den Staat, dessen Höhe abhängig von ihrem Einkommen der letzten drei Jahre ist. Um in der verbleibenden Zeit bis zum Start der Kita wieder arbeiten zu können, fuhr sie zu ihrer Mutter nach Südfrankreich, die das Baby hütete. Ab Herbst sollte Emma in die Krippe gehen: So war der Plan. Doch er ging nicht auf.
75 Prozent der Mütter arbeiten in Vollzeit
Diese Erfahrung, die keine vereinzelte ist, widerspricht dem Bild von Frankreich als Vorbild in Sachen Kinderbetreuung. Die Frauen steigen dort rasch nach der Geburt komplett wieder in den Beruf ein und brauchen dementsprechend früh eine zuverlässige Lösung. So arbeiten 75 Prozent der Mütter von mindestens einem Kind unter drei Jahren in Vollzeit – meist bereits drei Monate nach der Entbindung.
Ähnlich hatte es sich auch Isabelle Dupont vorgestellt. Zwar hatte die junge Mutter die Anträge auf einen Betreuungsplatz in ihrer Stadt Alfortville bei Paris und beim zuständigen Departement Val-de-Marne rechtzeitig im siebten Schwangerschaftsmonat gestellt. Die Platzvergabe der staatlichen Kindertagesstätten läuft in Frankreich zentral. Dupont gab dabei an, dass sie eine selbstständig arbeitende Single-Mama sei. „Das wird schon“, sagte sie sich, die Warnungen von Freundinnen überhörend: Wenn sie nicht unentwegt bei verschiedenen Stellen anrufe, Briefe an den Bürgermeister schreibe, sich persönlich vorstelle wie bei einem Job-Interview, dann werde das nichts. „Heule denen was vor! Mach Druck“, rieten die Freundinnen. Doch Dupont schrieb keine Bittbriefe. Die Folge: Sie erhielt Absagen, immerhin versehen mit dem Ratschlag, es nächstes Jahr wieder zu versuchen.
Mit wachsender Kinderschar sinkt in Frankreich der Anteil der Frauen, die bald nach der Geburt wieder arbeiten. Ein verschwindend geringer Bruchteil der Väter bleibt für die Betreuung des Nachwuchses zu Hause. Viele feierten es als großen Fortschritt der Regierung um Präsident Emmanuel Macron, als im Juli der gesetzliche Vaterschaftsurlaub von 14 auf 28 Tage erhöht wurde. Von einem Elterngeld wie in Deutschland, das die Kinderbetreuung durch beide Elternteile belohnt, ist Frankreich weit entfernt.
Auch eine Herdprämie käme hier niemandem in den Sinn. Politisch ist es seit langem gewollt, dass beide Elternteile berufstätig sind; Teilzeitjobs sind unüblich. Der Feminismus der Philosophie-Ikone Simone de Beauvoir unterstützte dies, wie die Historikerin und Feministin Yvonne Kniebiehler erklärt. Von der Mutterschaft als Erfüllung zu sprechen, sei unter dem Einfluss dieser Denkschule lange tabu gewesen: „Die Mutterschaft galt als Einkapselung, als Selbstentfremdung, als Verurteilung der Frau, zu Hause zu bleiben.“ Auch als Frauen durch die Antibabypille freier wählen konnten, setzen sie für die Kindererziehung meist höchstens ein paar Monate aus.
Also ist es gang und gäbe, ein wenige Monate altes Baby von morgens bis abends fremdbetreuen zu lassen. So hat eine Französin das Recht auf 16 Wochen bezahlten Mutterschaftsurlaub, davon sechs vor der Geburt. Ab dem dritten Kind sind es 26 und im Fall von Zwillingen 32 Wochen. Eine Verlängerung der Auszeit ist möglich, aber nur mit finanziellen Einbußen: Die staatlichen Hilfen sind auf maximal 400 Euro pro Monat gedeckelt. Stattdessen wird die Berufstätigkeit von Müttern gefördert, indem es deutliche Vorteile bei der Einkommenssteuer gibt und dort auch die Kosten für Kinderbetreuung zur Hälfte abgesetzt werden dürfen. Länger zu Hause zu bleiben können sich viele nicht leisten. Und da es nicht üblich ist, fehlt die Akzeptanz bei den Arbeitgebern und Unternehmen.
Es ist ein System, das Frauen einerseits einem gewissen Druck aussetzt, zumal sie laut Statistik auch den Großteil des Haushalts übernehmen – von wegen moderne Arbeitsteilung. Andererseits führt es dazu, dass das Land seit Jahrzehnten eine der höchsten Geburtenraten in Europa vorweisen kann. Zwar sinkt sie, von 2,08 Kindern pro Frau im Jahr 1980 auf 1,83 Kinder im vergangenen Jahr. In Deutschland aber bekam eine Frau zuletzt im Schnitt 1,53 Kinder. Der Wert in Frankreich ist vergleichsweise hoch, weil die Entscheidung zwischen Karriere und Familie nicht getroffen werden muss – zumindest in der Theorie.
Anders als in Deutschland haben Akademikerinnen oft mehrere Kinder. Es gibt etliche Beispiele für in Politik und Wirtschaft erfolgreiche Frauen, die mehrfache Mütter sind: Die ehemalige sozialistische Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal hat vier Kinder mit ihrem früheren Partner, Ex-Präsident François Hollande. Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo, die für die Präsidentschaftswahl 2022 kandidiert, ist dreifache Mutter. Eine Tochter und fünf Söhne hat Isabelle Kocher, eine der wenigen Frauen an der Spitze eines börsennotierten Unternehmens, des Energieversorgungskonzerns Engie.
Der bohrenden Frage, wie sie ihre fordernden Aufgaben mit ihrem Familienleben in Einklang bringen, muss sich keine von ihnen öffentlich stellen – anders als das etwa bei der deutschen Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock der Fall gewesen war. Die Grünen-Politikerin hat mit ihrem Ehemann zwei kleine Töchter. Kind und Karriere, in Frankreich ist diese Doppelaufgabe Teil der Kultur. Das Wort „Rabenmutter“ existiert im Französischen nicht.
All dies bedeutet aber eben nicht, dass es ausreichend Krippenplätze gibt. Der Bedarf ist einfach zu groß, vor allem in den Vororten von Metropolen und im Großraum Paris. Denn viele Familien, die mehr Platz brauchen und sich die Mieten im teuren Zentrum nicht leisten können, ziehen ins Umland. So hat Frankreichs Hauptstadt in fünf Jahren 54.000 Einwohnerinnen und Einwohner verloren – oftmals an die Vorstädte, die sogenannten Banlieues. Das wirkt sich auf die Betreuungsplätze aus. Besonders angespannt ist die Situation im Departement Val-de-Marne im Südosten von Paris, jenem der alleinerziehenden Mutter Isabelle Dupont. Auf die insgesamt verfügbaren 1500 Krippenplätze kämen pro Jahr 15.000 Anfragen, erklärt die Sachbearbeiterin für die Kleinkindbetreuung, Acha de Laure. „Ein Platz in der Krippe kann eben nicht garantiert werden, auch nicht nach mehreren Anträgen“, sagt sie. Die Kriterien seien das Alter des Kindes, die soziale Durchmischung und die Ausgewogenheit zwischen Mädchen und Jungen.
Auch in Deutschland übersteigt die Nachfrage nach Kitaplätzen das Angebot
Auch in Deutschland überstieg im Jahr 2020 in allen Bundesländern der Bedarf an Betreuung die vorhandenen Plätze. Traditionell am ehesten passen Betreuungsquote und Bedarf in den ostdeutschen Bundesländern zusammen, wie eine Statistik des Bundesfamilienministeriums zeigt. In Sachsen übersteigt der Bedarf an Krippenbetreuung für Kinder zwischen null und drei Jahren die Zahl der vorhandenen Plätze „nur“ um gut fünf Prozent. In Bayern bekommen knapp zwölf Prozent der Kleinkinder keinen Platz, in Rheinland-Pfalz überragt der Bedarf die Betreuungsquote gar um 17 Prozent. Bei älteren Kindern entspannt sich die Lage etwas. Doch allein in Augsburg, so ergaben jüngst Recherchen unserer Redaktion, gingen – Stand September – fast 2000 Kinder und ihre Eltern bei der Suche nach einem Krippen-, Kindergarten- oder Hortplatz leer aus.
In Frankreich kommt beim Wettkampf um die begehrten Plätze immer wieder der Vorwurf auf, dass manche Eltern bevorzugt werden. Dann nämlich, wenn sie besonders renitent sind und nicht aufhören, Druck zu machen. Véronique Kraemer, Leiterin der Krippe Louis Blanc in Alfortville, weist das zurück: „Wir haben eine Kommission, die nach klaren Vorgaben auswählt.“ Zu den staatlichen kommen noch private Kindertagesstätten, die auf Basis einer Partnerschaft mit Privatunternehmen, bei denen ein Elternteil angestellt ist, funktionieren.
Die meisten Eltern ohne Krippenplatz suchen Tagesmütter – dadurch hat sich ein wichtiger Berufszweig herausgebildet. Für die staatliche Anerkennung müssen die Frauen eine spezielle Ausbildung absolviert haben. Ihre Wohnung wird regelmäßig von einer dafür zuständigen Stelle überprüft. Die meisten Tagesmütter betreuen gleichzeitig drei oder vier Kinder im Alter von wenigen Monaten bis zu drei Jahren. Man erkennt sie oft von Weitem, wie sie mit einem besetzten Doppelkinderwagen und umgeben von weiteren Kleinkindern zu Spielplätzen spazieren und sich dort gerne untereinander treffen. Viele stammen aus Westafrika oder dem Maghreb.
„Es ist eine Frage des Vertrauens: In einer Kinderkrippe sind die Kleinen nie mit einer Betreuerin alleine. Über eine Tagesmutter hat man letztlich keine Kontrolle“, sagt die 41-jährige Sarah Bégot, die für ihre Tochter Noémie einen Krippenplatz in Paris bekam. Wie sie den Eltern-Jackpot gewonnen hat? Sie ging regelmäßig vorbei und kam irgendwann „wie zufällig“ mit einer der Mitarbeiterinnen ins Gespräch: „In Frankreich läuft eben vieles über Kontakte.“
Emma hat jetzt eine Tagesmutter
Auch Isabelle Dupont wurde nach Dutzenden Anrufen und mehreren Treffen mit möglichen Tagesmüttern schließlich fündig: Mit einer der Frauen habe „die Wellenlänge gestimmt“, und seit September bringt Dupont Emma jeden Morgen zu ihrer „Nounou“, wie die französische Form für Nanny lautet. Mit rund 700 Euro pro Monat liegen die Kosten etwas höher als bei einer Kinderkrippe; allerdings gibt es neben staatlichen Hilfen die Möglichkeit, die Hälfte der Ausgaben von der Steuer abzusetzen. Dupont will sich auch in den nächsten Jahren weiter um einen Krippenplatz bemühen, bis ihre Tochter drei ist. Dann kommt sie in den Kindergarten, der in Frankreich bereits Vorschule heißt, verpflichtend und kostenlos ist – und plötzlich gibt es genügend Plätze für jedes Kind.
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