Weniger ist mehr: Warum ein altes Golf Cabrio glücklich macht
Moderne Autos strotzen vor Komplexität. Aber muss das sein? Nach einem schönen Sommer in einem alten Golf Cabrio glaubt unser Autor zu wissen, was man wirklich braucht zum Autofahrer-Glück.
Lieschen Müller fährt ihr Auto durchschnittlich sechs, sieben Jahre lang, ehe ein Neuer oder neuer Gebrauchter angeschafft wird. Schneller geht’s bei Leasing-Nehmern, sie kommen in der Regel nach zwei, drei Jahren in den Genuss eines neuen Autos. Und der Autor dieser Zeilen?
Der nimmt für gewöhnlich alle paar Tage hinter einem anderen Steuer Platz. Vom Kleinstwagen bis zum Luxus-SUV, vom Familien-Kombi bis zum Super-Sportwagen ist alles dabei – und eines eint alle Testwagen: Egal ob Brot-und-Butter-Auto oder Nobelkarosse, fast alle sind recht gut ausgestattet.
Selbst der kleinste City-Flitzer lässt sich heute maßlos aufrüsten
Die Möglichkeiten sind heutzutage enorm. Selbst so mancher City-Flitzer lässt sich mit Abstandstempomat, Massagesitzen oder Online-Zugang zur Wohlfühloase aufrüsten – gegen Aufpreis, versteht sich. Nicht selten treiben die Extras den Einstiegspreis um zehn, zwanzig oder noch mehr tausend Euro in die Höhe, und aus dem einstigen Schnäppchen wird eine finanzielle Herausforderung. Aber: Braucht man wirklich jeden Schnickschnack zum Autofahrer-Glück? Der Selbstversuch in diesem Sommer hat gezeigt: Nein!
Keine Frage, jeden Tag ein anderes, nagelneues Auto zu fahren ist toll. So schnell wie die Fahrzeuge auf den Hof rollen, sind sie aber auch wieder weg. Und als im Frühjahr die ersten warmen Sonnenstrahlen sich anschickten, den Winter auszutreiben, wuchs der Wunsch nach etwas Eigenem: einem Cabrio, schließlich war die Erinnerung an den heißen Sommer des vergangenen Jahres noch gut präsent. Der Gebraucht-Cabrio-Markt ist um diese Jahreszeit gut gefüllt, und in Gedanken sah sich der Autor schon in einem Porsche Boxster, Audi TT oder 3er BMW an lauen Abenden übers Land cruisen.
Der Vierzylinder-Sauger des Golf hat 75 PS
Die Realität allerdings sollte anders aussehen. „Willst du einen Golf IV Cabrio?“, fragte der Vater Anfang April – und ich verneinte vehement. Bis ich den Preis erfuhr. Eine Woche später war ich gerade mal 800 Euro ärmer und stolzer VW-Fahrer. Aus dem satt knurrenden Sechszylinder-Boxer ist ein 1,8-Liter-Vierzylinder-Sauger mit 75 PS geworden, aus dem elektrischen Sesam-öffne-dich-Dach ein manuell zu bedienendes Verdeck und statt des High-End-Multimedia-Systems gibt’s ein schlichtes DIN-Radio, das immerhin schon anzeigen kann, welchen Sender man gerade hört.
20 Jahre hat der Golf auf dem Buckel, der eigentlich gar kein Golf IV, sondern ein verkappter Golf III ist: VW hat dem Dreier-Cabrio 1998 lediglich mit einem Facelift Front- und Heck-Design der neuen Generation verpasst – und die Instrumentenbeleuchtung auf blau umgestellt. Das sieht fast schon futuristisch aus und erfüllt seinen Zweck: Man kann Tempo, Drehzahl, Tankuhr und Kühlwasser-Temperatur gut ablesen.
Mehr Anzeigen gibt es nicht, und von digitalen Instrumenten dürften die Ingenieure seinerzeit noch nicht einmal geträumt haben. Ja nicht mal einen Bordcomputer hat der Golf. Braucht man den? Nicht wirklich: Eine Reichweiten- oder Verbrauchsanzeige ist überflüssig, der Golf kommt mit einer Tankfüllung nämlich immer rund 700 Kilometer weit. Wie lange man schon unterwegs ist, kann man nach einem kurzen Blick auf die Digitaluhr (!) ganz einfach ausrechnen.
Keine zehn Sekunden, und das Verdeck ist offen
Und wie warm es draußen ist, merkt man eh, weil natürlich das Dach fast immer offen ist: Entriegeln, nach hinten klappen, fertig – es dauert keine zehn Sekunden, schon sitzt man im Freien. Zugegeben: Die schicke Persenning über das nur hinter den Rücksitzen abgelegte Verdeck zu montieren ist etwas fummeliger, doch auch ohne die ist das Cabrio-Vergnügen ungetrübt. Genauso wie ohne Sitzheizung, ohne Massage-Funktion, ohne beheizbares Lenkrad und ohne Nackenföhn. Wenn es bei der Landpartie zu sehr zieht, binde ich mir einen Schal um den Hals, und wenn man die Heizung voll aufdreht, wird’s selbst in kühlen Sommernächten ziemlich warm im Golf.
Auch verfügt der 800-Euro-Golf freilich nicht über adaptive Dämpfer. Doch selbst nach gut 180.000 Kilometern arbeitet der Standard-Unterbau tadellos, und der VW schwankt keinesfalls labbrig über den Asphalt; für eine dynamische Gangart fehlt ihm sowieso die Kraft.
Der Fahrtwind ist die schönste Musik
Zum Kurvenräubern ist er aber auch nicht gemacht, sondern um gemütlich an den See oder zur Eisdiele zu kommen, mehr nicht. Da spielt es auch keine Rolle, dass der Radio-Klang nicht aus einem sündhaft teuren Soundsystem kommt, sondern aus der VW-Standard-Anlage: Offen ist der Fahrtwind die schönste Musik, und ist das Dach zu, ist es innen fast genauso laut wie ohne Verdeck. Nur einen USB-Anschluss vermisse ich manchmal. Ohne den muss die eigene Gute-Laune-Playlist leider draußen bleiben. Kassetten habe ich nämlich keine mehr.
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Der Beitrag spricht mir aus der Seele. Habe auch das Privileg eines "sorgenfreien" Dienstwagens.
Privat gönne ich mir zusätzlich noch ein eigenes Auto. Dies ist mittlerweile 25 Jahre alt, und ich genieße jeden Kilometer. Damit kommen auch immer wieder Erinnerungen aus der Jugend auf.
Vielen Dank für den schönen Beitrag - geht mir mit meinem 20 Jahre alten Z3 Roadster genauso (allerdings mit 6-Zylinder-Sound... )
Das Musik-Problem hatte ich auch und habe es mit einem bluetooth-fähigen FM-Transmitter gelöst. Dabei wird die Musik vom MP3-Player, Smartphone etc. über Bluetooth an den FM-Tansmitter übertragen, von diesem in ein Radio-Signal umgewandelt und auf einer freien Senderfrequenz auf das Autoradio gespielt. Klappt wunderbar, auch mit Spotify und den Routenansagen von Google Maps. Und die Bluetooth-Anbindung funktioniert besser als beim hochmodernen Business-Paket meines Alltags-X1...