Abschalten mal anders – zu Fuß durch das Leutaschtal
Etappentouren sind vor allem im Sommer beliebt. Wie fühlt sich das im Schnee an? Unser Autor war vier Tage unterwegs im österreichischen Leutaschtal.
Manchmal muss man sich das Winterglück hart erarbeiten. Auf dem Smartphone leuchtet eine Unwetterwarnung auf. Dazu ist der Fernpass gesperrt. Das Navi im Auto wechselt die Route: auch die Zufahrt über Mittenwald muss großräumig umfahren werden. Ob das eine gute Idee ist, inmitten dieses Schneechaos’ nach Leutasch zum Winterweitwandern zu fahren? Bei der Anfahrt regnet es in Strömen, rund um München, am Inntaldreieck und sogar in Innsbruck. Natürlich gießt es auch noch, als vor dem Zirler Berg alle Autos stehen: Schneekettenpflicht. Auch das noch! Der erste Vollkontakt mit dem Winter fällt anders als erhofft aus, mit zwei ineinander verschlungenen Ketten, im Dauerregen bei zwei Grad. Es gibt schöneres, als ein triefnasses Vorderrad minutenlang eng umschlingen zu müssen. Wäh!
Abends endlich in Kirchplatzl, dem Ausgangspunkt für diese viertägige Etappenwanderung durch das Leutaschtal. Es regnet immer noch. Bene, der die Winterwandergruppe führen wird, erzählt, dass er tagsüber bei seinen Eltern in Reit im Winkl das Dach abräumen musste. Die Türen in den oberen Stockwerken haben schon geklemmt. Als er abfahren wollte, kam er nur noch auf einem Schleichweg raus. Die Zufahrten ansonsten gesperrt. Bene kennt die Berge und den Winter, bis vor ein paar Jahre war er Profi-Freerider. Nachts wird es kalt, sagt er, dann haben wir am Morgen eine stabile Schneedecke zum Wandern. Richtig „geilen“ Pulverschnee hätte er sowieso nicht gewollt. Guter Pulverschnee sei nicht zum Wandern, sondern zum Skifahren oder Snowboarden da, findet Bene.
Wandern im Leutaschtal: „Wir müssen umplanen wegen Lawinengefahr“
Tatsächlich, irgendwann nachts, als der Fernseher mit all seinen Schnee- und Lawinennachrichten im Hotelzimmer längst aus ist, hat jemand den Schalter umgelegt: Es schneit jetzt unaufhörlich. Viel zu sehen ist da nicht. Außerdem müssen wir umplanen. „Wegen Lawinengefahr“, sagt Markus Schmidt, der die Wandergruppe am ersten Tag begleitet. Er ist der Erfinder dieses Winterweitwanderwegs. Schmidt, früher Chef des Tourismusverbands Karwendel, mittlerweile hauptberuflicher Reiseblogger, hat über seinen Blog registriert, wie groß das Interesse an Mehrtageswanderungen sei. Und kam ihm die Idee, eine Mehrtageswanderung im Winter zusammenzustellen: im Leutaschtal, wo es dafür die besten Voraussetzungen gebe.
Gut ein Jahr später lässt sich die Viertagestour regulär buchen, das Gepäck wird von Hotel zu Hotel gebracht, die Tour ist eigenes markiert. In diesen äußerst schneereichen Tagen muss allerdings improvisiert werden. „Normalerweise gibt es selbst in einem schneereichen Winter auf der Tour keine Lawinengefahr“, sagt Schmidt. Darauf habe man extra geachtet. Jetzt allerdings muss ausgewichen werden.
Die gute Nachricht ist: Es gibt hier im Leutaschtal genügend Ausweichwege, selbst wenn an den Hängen Lawinengefahr herrscht. Also raus jetzt endlich, wieder Ketten aufgezogen, dieses Mal unter die Schuhe. Und es ist doch merkwürdig, wie die Wandererseele beschaffen ist. Wenn es Sommer wäre und einen Tag lang der Regen fiele – einfach grauenvoll. Der Schneefall im tiefsten Winter stört dagegen fast gar nicht. Ohne Schnee wäre der Winter ja fad und grau. Heute ist alles weiß. Zwei Meter hoch liegt der Schnee, an manchen Stellen kommen einem die hineingepflügten und -gefrästen Wege fast schon wie Tunnel vor. Winter satt. Auf allem liegen satte Schneehauben, den Dächern, den Ästen, selbst auf Geländern oder Briefkästen sind kleine weiße Kunstwerke gestapelt. Und von der Schneepanik, die jenseits der Berge herrscht, ist hier im Leutaschtal selbst an diesem Neuschneetag nichts zu spüren. Nicht morgens im Hotel, nicht mittags in Polis Stuben, nicht abends im anderen Hotel. Alle sagen sie, dass es jedes Jahr viel Schnee gebe. Im Hotelfernseher abends wird von dem Hotel in Balderschwang berichtet, das von einer Lawine getroffen wurde.
Nachts kommt wieder die Kälte und es hört zu schneien auf. Endlich zeigt sich dieses Hochtal in seiner Winterpracht: eingerahmt von Wetterstein, Karwendel und Hoher Munde, die Gipfel weiß, die Hänge eingeschneit, das Tal eine Märchenwelt. Was für ein Zauber, was für ein Genuss. Der Schnee kitzelt an diesem Morgen förmlich, wenn er unter den Schuhen knirscht, die Bäume eingezuckert. Immer wieder sind Donnerschläge zu hören – Lawinen werden kontrolliert gesprengt. Es geht auf einem gut präparierten Waldweg zur Wildmoosalm bergan. Schritt für Schritt dringt diese weiße Naturwunderlandschaft immer tiefer in einen ein, so viel Schnee, Ruhe und Schönheit.
Gegen so viel Verzauberung hilft nur eines: die zutiefst weltliche Wildmoosalm. Draußen eine FC-Bayern-München-Fahne, drinnen lautet das WLAN-Passwort ronaldo7. Auf der Theke läuft ein Schnapsbrunnen in Dauerschleife, an der Decke hängt vom FCA-Fanschal bis zum ausgestopften Krokodil ein wildes Sammelsurium und an der Wand mit den Fotos und Autogrammkarten liefern sich Dolly Buster und Strietzel Stuck ein Kopf an Kopf rennen. Dazu läuft aus den Lautsprechern in Apres-Ski-Lautstärke „I dank dem Herrgott für die Berge“. Aber: Drinnen ist es warm.
Nachmittags führt Bene ein paar Unerschrockene in Richtung Brunschkopf, allerdings gibt es keine Spur zum Aussichtspunkt hoch. Wie ein Pflug geht Bene voran, immer wieder versinkt er hüfthoch im Schnee, ein kleines bisschen Abenteuer am Nachmittag. Mühsam geht es voran, der Schnee trägt nicht wirklich. Man müsste sich noch schneller durch den Schnee wühlen, um es wirklich bis oben zu schaffen. Aber noch schneller, das hieße ja, noch anstrengender. Nein – wieder umdrehen. Es braucht nur ein paar Meter in unpräpariertem Gelände, um dankbar für die vielen Winterwanderwege zu werden.
Abends, am nächsten Etappenort Mösern, sind die Lawinen wieder das bestimmende Thema. Eine ZDF-Fernsehredakteurin sitzt mit am Tisch und sammelt gerade für das Auslandsjournal Material. Am Morgen kann sie im Polizeihubschrauber mitfliegen. Die Zufahrten an der Grenze – immer noch gesperrt; viele Orte in den Bergen – immer noch abgeschnitten.
Wanderung im Leutaschtal: Ein kurzer Abstecher zum Möserer See
Am nächsten Tag haben sich die Wolken verzogen, der Himmel ist blau. Der kurze Abstecher zum Möserer See bekommt etwas Unwirkliches. Kein Wanderer ist dort am Morgen unterwegs, der See ist eingeschneit. Mit dieser Schneedecke wirkt der Ort unberührt, fast schon magisch. Heute läuft ein Bergführer mit. Nicht wegen des Wegs, der ist einfach, sondern, um auch etwas von Region zu erzählen. Erst einmal muss Bernd Werner allerdings etwas Drängendes loswerden: „Wie über die Lawinengefahr gerade gesprochen wird, das ist völlig übertrieben. Den Fernpass jetzt schon eine Woche zu sperren, eine Katastrophe.“ Panikmache sei das. Wenig später ist ein Hubschrauber zu hören – vielleicht die Polizei, die mit dem Fernsehteam unterwegs ist und oben an den Bergen schaut, wie der Schnee liegt.
Als Außenstehender tut man sich mit einem Urteil schwer. Allerdings spürt man, dass in diesem Hochtal in diesen Tagen keine Wetterpanik herrscht. Fast alle Wege sind nach ein paar Tagen wieder frei begehbar, nur der Abstecher zur Wettersteinalm, der ist noch gesperrt – Lawinengefahr. Auch kein Problem, dann wird die Unterkunft eben kurzerhand umgebucht. Beim Winterweitwandern geht es ja nicht um Höhenmeter, sondern um dieses Schnee-Erlebnis – und das ist in Leutasch fantastisch.
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