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Foto: Ewald Schmid, Ötztal Tourismus
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Foto: Ewald Schmid, Ötztal Tourismus

Benannt nach Piccard: 142 Meter lang ist die 2016 gespannte Hängebrücke am Gurgler Ferner, einem Gletscher in den Ötztaler Alpen.

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Auf dem Piccardbrücken-Rundwanderweg kommt der Wanderer am Ramolhaus vorbei, das auf 3006 Meter liegt.

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Auguste Piccard (1884–1962) bezeichnete sich selbst als „Kolumbus der Stratosphäre“.

Ötztal
06.09.2018

Eine Hängepartie zwischen Himmel und Erde

Von Claudia Stegmann

Auf den Spuren von Auguste Piccard: 1931 steigen zwei Männer in einen Gasballon, fliegen bis zur Stratosphäre – und verlieren die Kontrolle...

Es ist kurz vor vier Uhr morgens, als auf dem Gelände der Ballonfabrik in Gersthofen das Kommando „Haltetaue los!“ erschallt. Der Ballon, den zuvor eine Mannschaft der Landespolizei im Zaum gehalten hatte, schießt pfeilschnell in die Höhe. Tausende von Schaulustigen halten gespannt den Atem an, denn heute – das wissen alle, die an jenem 26. Mai 1931 dabei sind – wird Geschichte geschrieben. Höher als je zuvor soll dieser Ballon steigen – vorbei an den Wolken und über den Himmel hinaus bis zur Stratosphäre. Gesteuert wird das Himmelfahrtskommando von zwei Männern, die in einer selbst konstruierten Aluminiumkapsel von zwei Metern Durchmesser an dem Gasballon hängen, dem Schweizer Physiker Auguste Piccard und seinem Assistenten Paul Kipfer. Ihr Ziel: Sie wollen die rätselhafte kosmische und radioaktive Strahlung erforschen. Dass sie dabei die ersten Menschen sein würden, die die Erdkrümmung mit eigenen Augen sehen, war für sie ein vernachlässigbarer Nebeneffekt.

Der Startpunkt Augsburg war für die Expedition nicht zufällig gewählt. Einerseits konnte in der Ballonfabrik der 14000 Kubikmeter große und 800 Kilo schwere Seidenballon zusammengenäht werden und aus dem Farbwerk in Gersthofen kam das Wasserstoffgas. Andererseits ist Augsburg von allen Meeren gleich weit entfernt, womit Piccard das Risiko, im schlimmsten Fall im Wasser zu landen, minimieren konnte.

Während der Gasballon immer weiter aufsteigt, erwacht das Leben rund um Augsburg. Die Menschen auf der Straße bleiben stehen, beschatten ihre Augen und zeigen auf den immer kleiner werdenden Punkt am Himmel: Da oben schwebt Piccard! Das Ereignis verbreitet sich in Windeseile und erregt ähnlich großes Aufsehen wie knapp 40 Jahre später die Mondlandung. Der Start war reibungslos gelungen. Doch würde das auch auf die Landung zutreffen? Noch gibt es keinen Anlass, besorgt zu sein…

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Auch wir machen uns auf den Weg nach oben. Allerdings brauchen wir für unseren Aufstieg keinen Gasballon, sondern nur einen Rucksack und ein bisschen Kondition. Von Obergurgl aus, dem höchst gelegenen Kirchdorf Europas, geht es zum Ramolhaus, das auf 3006 Meter Höhe mitten in den Ötztaler Alpen in Tirol liegt. Auf steilen Grashängen überqueren wir mehrmals Gletscherbäche, ehe wir die letzten Meter über Felsgeröll erklimmen. 1150 Höhenmeter sind es bis zur Schutzhütte der DAV-Sektion Hamburg –den Topfenstrudel haben wir uns in jedem Fall verdient.

Der Höhenflug von Auguste Piccard ist mit Obergurgl schicksalhaft verbunden. Zu seinen Ehren wurde eine Hängebrücke benannt, die 2016 über die Schlucht des Gurgler Ferner errichtet wurde. Seitdem verbindet sie rund 100 Meter über dem Grund die beiden Talseiten auf einer Länge von 142 Metern. Die Querungsmöglichkeit gab es schon früher, allerdings als Holzbrücke über einem Bach am Talboden. Steinschläge und mitunter starke Wassermassen haben die Brücke aber immer wieder zerstört, weswegen nach Alternativen gesucht wurde. Die neue Piccard-Brücke sichert nun nicht nur den Übergang, es ist auch ein einzigartiges Erlebnis, sie zu überqueren. Die nach der Brücke benannte hochalpine Rundwanderung können ambitionierte Wanderer an einem Tag zurücklegen. Wir entscheiden uns aber für eine Übernachtung auf dem Ramolhaus – nicht nur wegen seiner exponierten Lage und der damit verbundenen grandiosen Aussicht, sondern auch wegen des gut aufgelegten Hüttenwirts und des hervorragenden Essens.

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Die Aussicht, die Auguste Piccard und Paul Kipfer von ihrem fliegenden Laboratorium aus haben, können sie dagegen nur wenig genießen. In nur 25 Minuten schießt der Ballon auf eine Höhe von 15 000 Metern – viel schneller als gedacht. Die Forscher können deshalb nur einen Bruchteil ihrer geplanten Messungen vornehmen. Außerdem macht Piccard zweieinhalb Stunden nach dem Start eine „schlimme Entdeckung“, wie er in seinem Bordbuch notiert: Die Leine, mit der sich das Gasventil öffnen lässt, hat sich verheddert. Aus diesem Grund lässt sich der Ballon nicht mehr steuern. „Wir sind Gefangene der Luft“, schreibt Piccard. Einzig Wind und Temperatur bestimmen jetzt noch die Bahn des Ballons. Dazu kommt, dass der Motor, mit dem die Kugelgondel zum Schutz vor der Sonneneinstrahlung hätte gedreht werden können, vor dem Start beschädigt wurde. Die Folge: Der Innenraum erhitzt sich auf über 40 Grad. Weil sie vergessen hatten, Wasser mitzunehmen, müssen die Männer ihren schlimmsten Durst mit Kondenswasser stillen, das die Wände entlangrinnt. Doch Durst ist im Augenblick ihr geringstes Problem. Sieben Stunden nach dem Start, so die Berechnungen des Physikprofessors, hätte das Team wieder landen sollen. Jetzt sind sie bereits seit zwölf Stunden in der Stratosphäre – und der Sauerstoff reicht noch für etwa acht Stunden …

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Über übermäßige Hitze können wir uns nicht beklagen. Auf 3000 Metern Höhe empfiehlt es sich, neben einer warmen Jacke auch immer Mütze und Handschuhe im Rucksack zu haben. Als wir am nächsten Morgen durch die Wolkendecke die Sonne hindurchspitzeln sehen, hat es gerade mal fünf Grad. Über felsiges Gelände und Gletscherschiffplatten, teilweise gut mit Seilen und Trittbügeln versichert, geht es hinab zur neuen Seilbrücke, die von Anfang Juli bis Ende September begehbar ist. Auf der anderen Talseite geht es zunächst wieder aufwärts, ehe das Langental mit seiner Langtalereckhütte (2450 m) zu einer Einkehr einlädt. Der anstrengende Teil der Tour ist an dieser Stelle überstanden. Die restlichen Kilometer hinunter nach Obergurgl sind dann nur noch ein Spaziergang.

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Einer Spazierfahrt, wenngleich einer ungewollten von höchster Dramatik, gleicht auch der Flug von Piccard und Kipfer. Seit Stunden treiben sie nun schon hilflos in der Stratosphäre, ohne dass der Ballon wesentlich gesunken wäre. Erst als die Sonne langsam untergeht, kühlt sich das Gas ab und der Ballon verliert an Höhe. Im Logbuch notiert Piccard akribisch seine Beobachtungen. Er weiß zwar nicht, wo er sich befindet, doch er schreibt um 20.15 Uhr: „Unter uns Hochgebirge, phantastisch schön.“ Gegen 21 Uhr und damit nach 17-stündiger Irrfahrt landen die beiden Pioniere unsanft auf einem Gletscher. „Schönes unbekanntes Hochgebirge“, beschreibt Piccard seinen ersten Eindruck. Eine unbequeme Nacht müssen sie noch auf dem Gurgler Ferner verbringen, ehe die völlig entkräfteten Männer am nächsten Morgen von einem Suchtrupp aus Obergurgl ins Tal gebracht werden.

Die Nachricht von der Rettung Piccards geht als Sensationsmeldung durch die Weltpresse. Augen und Ohren der großen weiten Welt sind in das bis zu diesem Zeitpunkt weitgehend unbekannte Obergurgl gerichtet. Der Gurgler Pfarrer Franz Danler schreibt später in einer Chronik: „Die Zeitungen brachten spalten- und seitenlange Berichte über die Rettung Piccards, seinen Empfang und Aufenthalt in Obergurgl – aber wie viel da zusammengelogen wurde, das ist einfach unglaublich!“ Auguste Piccard bleibt zwei Tage in Obergurgl. Dann fährt er mit einer Kutsche davon und mit ihm die vielen Reporter und Schaulustigen. Zurück bleiben die Kugelgondel und ein vom Spektakel irritierter Dorfpfarrer, der sich fragt: „Wie viel Menschen werden nach ein paar Jahrzehnten noch wissen, dass am 27. Mai 1931 Prof. Piccard in Gurgl niedergegangen und gerettet worden ist?! Närrische Welt!“

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