Estland für Vogelfreunde: Natur ist kein Futterhäuschen
Spechte, Enten, Wiesenpieper: Als Anfänger in einer Gruppe von Ornithologen auf der Insel Saaremma erkennt man erst mal wenig, lernt aber viel.
Es ist Montagmorgen, 6.57 Uhr auf der estnischen Insel Saaremaa, und der innigste Wunsch von acht Menschen, die sonst wenig gemeinsam haben, erfüllt sich gerade. Da sitzt er! Ganz oben auf einer Fichtenspitze wirft er ruckartig den fast viereckigen Kopf hin und her und blickt mit gelben Augen wie ein grimmiger Beherrscher seines Reiches auf die Gruppe herunter: Der Sperlingskauz. Führer Andreas ist erleichtert wie ein kleiner Junge nach einem doch noch guten Zeugnis: „Ihr habt alle gezweifelt, was?“ Und dann strömt das geballte Wissen aus 50 Jahren Vogelbegeisterung nur so aus ihm heraus: Der Sperlingskauz ist dämmerungsaktiv und gilt als Vogeljäger Nummer eins. Auch größere Opfer tötet er mit gezieltem Nackenbiss und für maue Jagdzeiten legt er Beutedepots in alten Spechthöhlen an. Durch das Fernglas gesehen scheint der Vogel ein wahrer Kaventsmann zu sein. In Wirklichkeit ist er nicht größer als ein Star.
Die Wildnis ist kein Futterhäuschen. Wer andere Vögel kennenlernen will als Amsel, Drossel, Fink und Meise, muss sie da aufsuchen, wo sie zu Hause sind oder während ihres Zuges rasten. Vögel beobachten heißt suchen und vielleicht finden. Menschen, die das zu ihrem Hobby gemacht haben, nennt man Ornithologen. Nach landläufiger Meinung handelt es sich dabei überwiegend um ältere Herren in ausgebeulten Cordhosen, die die Gesellschaft von Canadagänsen jedem Kontakt zu Ihresgleichen vorziehen und sich selbst zum Geburtstag mit Kameras im Wert von Kleinwagen beglücken.
Die Gruppe, die sich einen Tag zuvor am Flughafen von Tallinn getroffen hat, widerlegt dies aufs Angenehmste. Fünf Menschen zwischen 23 und 54, vom IT-Manager bis zur Bauleiterin sowie ein schreibender Ornithologen-Azubi werden sich die nächsten sechs Tage gemeinsam den gefiederten Freunden widmen. Und keiner wirkt weltentrückt oder verbissen, im Gegenteil.
Estland ist Rastplatz für viele Vögel
Reiseleiter Andreas Weber, studierter Forstingenieur, schwärmt von Estland als wahres Vogelparadies. Hier rasten oder überwintern die Flieger des ostatlantischen Vogelzugs auf ihrem Weg vom Polarmeer zum Südatlantik. Hier finden sie eine Vielzahl unterschiedlicher Landschaftsformen vor: Kiesige Küsten, weite Moore mit uralten Krüppelkiefern, feuchte Erlenbrüche und Wiesen, die seit dem Umbruch 1990 nicht mehr bestellt wurden.
In den nächsten Tagen fährt die Gruppe jeden Morgen sehr früh hinaus und kehrt oft erst spätabends zurück. Am Kap von Tagaranna sind es die Enten, denen die geballte Aufmerksamkeit gilt: Trauer-, Samt-, Pfeif- und Eisenten dümpeln in den Wellen. Vor allem aber begeistern die seltenen Scheckenten, die eigentlich in der Barentsee leben. Am Ufersaum hüpfen grau-weiße Schneeammern auf und ab wie Federbälle und fressen sich voll für die Reise nach Skandinavien. Seidenschwänze, Tannenhäher, Haubenmeisen werden ausgemacht. Auf dem Festland entdeckt der Führer einen der seltenen Kiefernkreuzschnäbel und zwei Mäusebussarde betreiben auf einem Ast wackligen Sex in luftiger Höhe? Bei der Balz der Birkhähne spreizen vier, fünf schwarze Waldgockel ihre Schwänze wie weiße Fächer und stolzieren aufgeregt aufeinander zu. Wer ist der Schönste, Stärkste, Selbstbewussteste hier in der Balzarena?
Der ornithologische Azubi tut sich zunächst schwer. Weder vermag er die eine Ente von der anderen zu unterscheiden, noch erkennt er im Gewirr aus Grün und Braun den Weißrückenspecht. Sieht mal wieder nichts, der Gute, befinden die Kollegen nachsichtig: Zeigen wir ihm eben die App! Als es ihm nach Tagen gelingt, die flatterhafte, schwarz-weiße Wolke über einem Acker als Kiebitzschwarm auszumachen, sagen die Blicke der Begleiter „brav“. Während sie eifrig Höckerschwan, Großer Brachvogel, Wiesenpieper und Erlenzeisig notieren.
Da ist der Auerhahn unterwegs
Warum tun die das? Warum fährt jemand stundenlang durch die Gegend und steht sich die Beine beim endlosen Warten in den Leib? Der Eine schätzt vor allem, dass er beim Beobachten alles andere vergisst. Die andere begeistert, dass sie einen Einblick in das Verhalten von Lebewesen bekommt. Der Dritte verweist auf sein Jäger- und Sammlergen: Immerhin sind bis jetzt etwa 10000 Vogelarten bekannt und fast noch mal so viele werden künftig wohl noch bestimmt werden. Alle aber lieben sie die Überraschung: Man weiß nie, was einen erwartet.
Und jetzt notieren sie ununterbrochen: Trompetergimpel, Kleiber, Tannenmeise, Kranich. 103 Arten entdecken sie während der Tage insgesamt, darunter viele zum ersten Mal im Leben.
Doch schließlich hat auch der Azubi seine große Stunde. Im Staatsforst, in dem die Kiefern schlank und gerade hochschießen wie Spargel, fährt der Bus langsam auf dem Waldweg dahin. Blicke scannen das Grün zur Linken und zur Rechten, wo die frühe Sonne ein Leopardenmuster auf den Boden pinselt. Und da! Der schwarze Fleck, der sich auf dem hellgrauen, dicken Teppich aus Islandmoos bewegt – ist es ein Elch? Nein, sogar ein Bär! Von wegen, korrigieren die Kollegen, jetzt selbst ganz aufgeregt. Eindeutig ist da ein Auerhahn unterwegs – die roten „Rosen“ über den Augen leuchten geradezu. Den Schwanz gespreizt, wandelt er hochmütig über die sandige Waldbrandschneise, ganz Seht-mich-Prachtkerl-nur-an, verschwindet immer wieder hinter Stämmen und macht sich schließlich in den tiefen Wald davon. „Vielleicht wird aus dir ja doch noch ein Birder“, klopft die Frau aus Bayern dem Azubi hoffnungsvoll auf die Schulter. Es klingt, als gebe es nichts Erstrebenswerteres im Leben.
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