Modern statt muffig: Jugendherbergen bieten mehr Komfort
Die Jugendherbergen feiern 111. Geburtstag – und wandeln sich. Während in der Pandemie Flaute herrscht, entsteht die Zukunft. Ein Baustellenbesuch.
In einem Rohbau im Herzen Münchens dröhnen Bohrmaschinen, sprühen Funken, knallen Rohre aufeinander. Es riecht nach frischem Beton, Wind weht durch das offene Gebäude, es ist an diesem Sommermorgen angenehm kühl. Wer die Baustelle betritt, sollte einen Helm tragen. Und auf den Boden achten: Im ersten Stock gibt es mehrere Löcher. Kanthölzer sollen verhindern, dass ein Besucher-Fuß eine Etage tiefer rutscht. Was die Bauherren am Winthirplatz 8 vorhaben? Das verrät ein Schild an einem Kran: "Neubau der Jugendherberge München-City."
Fünf Stockwerke, Tiefgarage, Keller. 9000 Quadratmeter Fläche sind es auf jeder Etage, eine Glasfassade soll sich irgendwann vom Erdgeschoss bis zum zweiten Stock ziehen. Da, wo jetzt noch Kabel aus und Baupläne an der Wand hängen, sollen Betten mit Schreinerelementen stehen. Die Baustelle unterscheidet sich nicht von anderen Baustellen und doch hat der Besucher das Gefühl, das hier etwas Besonderes entsteht. Die Jugendherberge soll das neue Prachtstück des bayerischen Jugendherbergswerks werden, fertig im Juni 2021.
Klassenfahrten sind tabu - dabei machen sie fast die Hälfte der Buchungen aus
Rucksacktouristen, Schüler, Familien schlafen in der neuen Herberge ab 19,90 Euro je Nacht mit Frühstück. 304 Betten wird es in 69 Zimmern geben. Zwischen zwei und elf Personen schlafen in ihnen. Einzelzimmer? Fehlanzeige. Das entspricht nicht dem Credo der Jugendherbergen: Geselligkeit.
Eine Klassenfahrt, wie herrlich! Mitschüler und Lehrer außerhalb des Klassenraums und Pausenhofs sehen, mit ihnen im Bus irgendwo hinfahren, in einer Jugendherberge übernachten. Ausflüge machen und abends irgendwo abhängen: Das ist ein Highlight der Schulzeit und ein kleines Abenteuer. Auch wenn es nicht ins hippe Hamburg, sondern ins Emsland geht.
Doch bei Geselligkeit liegt derzeit das Problem. Vereinzelung ist das Gebot der Stunde. Jugendherbergen macht die Corona-Pandemie genauso zu schaffen wie Theatern und Diskotheken. Derzeit reisen viel weniger Menschen als gewöhnlich. Klassenfahrten sind bis Januar nächsten Jahres verboten. Schüler sollen laut bayerischem Kultusministerium wegen Corona verpassten Stoff nachholen.
Die Krise trifft Jugendherbergen "mit voller Wucht", wie es vom bayerischen Jugendherbergswerk heißt. Schulklassen und Vereine machen jeweils 40 Prozent der Gäste aus, die restlichen 20 Prozent entfallen auf Familien sowie Einzelpersonen. Zwischen März und Mai waren Herbergen komplett geschlossen, die Lage nach eigenen Angaben existenzbedrohend. Der Bau der neuen Unterkunft in München wirkt wie aus einer anderen Zeit. Aber ihn stoppen? Das wäre noch teurer gewesen und war keine Option. Das Herbergswerk ist an Verträge mit Baufirmen gebunden und hätte sich Schadensersatzforderungen gegenüber gesehen.
Einfacher war es, den Neubau der Regensburger Herberge nicht wahrzunehmen. Das neue Gebäude, 200 Betten, Zimmer mit eigenen Duschen wie in München, sollte direkt neben der bestehenden Herberge auf einem unbebauten Grundstück in der Innenstadt entstehen. Der Vorentwurf war abgeschlossen, der Baubeginn für Anfang nächsten Jahres geplant, dann kam Corona. Entschädigungszahlungen kommen aber nicht auf das Herbergswerk zu.
Musik, Tanz, Theater: Die neue Jugendherberge in München setzt auf Kultur
Winfried Nesensohn, 58, besucht heute die Baustelle in München – mit Helm. Er ist Vorsitzender des bayerischen Jugendherbergswerks und zuständig für Marketing, Bildung, Vertrieb. Seine letzte Übernachtung in einer Jugendherberge war in Dortmund. Bestimmt wird er auch in der neuen in München übernachten. Nun redet er über die Situation der bayerischen Herbergen in diesem ungewöhnlichen Sommer. Der läuft bisher ganz gut, was die Buchungen angeht. Aber: "Es könnte sein, dass einzelne Häuser im Herbst wieder zumachen müssen", sagt er. Wenn die Reisezeit vorbei ist und Schulklassen ausbleiben. "Oberste Priorität ist es, Kosten zu sparen. Wenn die Pandemie im kommenden Jahr weitergeht, brauchen wir einen B- und C-Plan."
Plan A ist, von dem "soliden wirtschaftlichen Fundament" des Verbandes zu zehren, sagt Nesensohn. 2019 verzeichnete man mit 1,2 Millionen Übernachtungen ein Plus von 1,7 Prozent im Vergleich zu 2018. Eine Zahl, die dieses Jahr bei Weitem nicht erreicht wird. Das Herbergswerk rechnet mit nur 300.000 Übernachtungen. Zu Plan A gehören auch Corona-Hilfen der Bayerischen Staatsregierung für gemeinnützige Organisationen in Höhe von 5,8 Millionen Euro. "Wir müssen mit den Umständen umgehen. Es hilft nichts", sagt Winfried Nesensohn.
Der Bau des Schmuckstücks in München ist für den Herbergsverband ein Lichtblick. Damit wollen die Verantwortlichen den alten Muff, der Jugendherbergen anlastet wie einem Hütchenspieler sein Betrügerimage, ablegen. Schicke Möbel statt durchgelegener Betten, Espresso statt Hagebuttentee, Jazz-Konzerte statt Mau-Mau. 31 Millionen Euro investiert das bayerische Jugendherbergswerk in den Münchner Neubau. Damit sich Schüler auf Klassenfahrten besser kennenlernen, Backpacker sich begegnen und die bayerische Landeshauptstadt günstige Übernachtungsmöglichkeiten erhält.
Mit der neuen Münchner Herberge reagiert der Verband auf veränderte Bedürfnisse der Gäste. "Die Leute wollen nicht mehr im Matratzenlager unterkommen", sagt Nesensohn. Jugendherbergen hätten sich in den vergangenen zehn bis 15 Jahren gewandelt, seien moderner geworden. "Wir sind kein Hotel und servieren das Essen nicht à la carte, aber das Vierbettzimmer mit Dusche soll Standard sein." Der Markenkern, die Begegnung, soll erhalten bleiben, sagt Nesensohn. "Wir bieten Schulklassen auch ein pädagogisches Programm."
58 Jugendherbergen gibt es in Bayern, sechs davon sind in Schwaben
Die neue Herberge im Westen Münchens ist auf Kultur ausgerichtet: Musik, Tanz, Theater. Wo jetzt noch rot-weiße Absperrbänder hängen, Schubkarren stehen und Werkzeug rumliegt, stehen bald verspiegelte Räume für Ballett, ein Tonstudio, eine Bühne, Seminarräume. Schulklassen können in mehreren Räumen Musikproben abhalten und Workshops mit Komponisten besuchen. Ein Kulturpädagoge entwirft Programme. Die zweite Jugendherberge im Süden Münchens, nah der Isar gelegen, ist auf Sport ausgerichtet.
Die Unterkünfte in München sind zwei von 58 Jugendherbergen in Bayern. Davon liegen sechs in Schwaben: Donauwörth, Augsburg, Ottobeuren, Füssen, Oberstdorf, Lindau. Zu einer der schönsten Herbergen zählt Winfried Nesensohn die in Nürnberg. Sie hat ihr Zuhause in der über 500 Jahre alten Kaiserstallung mit Blick auf die Altstadt. Einen anderen, aber nicht weniger schönen Charakter, habe die Unterkunft in Lenggries, sagt Nesensohn. Die Unterkunft passe sich mit ihrem Hütten-Charakter an die Bergwelt an. In der Tat wirkt das Gebäude eher wie ein Mehrfamilienhaus, am Waldrand und am Tratenbach gelegen, umgeben von Bergen und unweit der Isar.
Viele Herbergen wurden in den 1930er-Jahren gebaut. Alle 30 bis 40 Jahre müsse man da mal ran, sagt Nesensohn. Neubauen oder Renovieren sei aber immer eine Gratwanderung: Auf der einen Seite möchte man den robusten Stil erhalten, auf der anderen Seite moderner werden. Außerdem stehen einige Gebäude unter Denkmalschutz. So wie der Altbau der Herberge in München-Neuhausen an der Wendl-Dietrich-Straße, der sich direkt neben dem Neubau befindet. Die Wiedereröffnung ist für Anfang 2022 geplant. 32 Zimmer und 98 Betten gibt es im Altbau. Die Herberge ist die älteste Stadtjugendherberge Deutschlands, der Betrieb begann 1929. Trotz aller Modernisierung, ein Möbelstück bleibt auch der neuen Jugendherberge in München-Neuhausen erhalten: das Etagenbett.
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