
Erziehung mit Spaß

Wie das Experimentelle Theater Günzburg den alten Struwwelpeter in die Neuzeit geholt hat.
Eine schwierige Frage: Was sollte man mehr bewundern? Die Kreativität und die Phantasie, die perfekte multimediale Technik, die subtilen Anspielungen oder die musikalische Begleitung des kleinen Ensembles um Raimund Gensbaur? Die Antwort ist dann doch recht einfach: Es war ein Gesamtkunstwerk, welchs das Experimentelle Theater Günzburg am Samstagabend im ausverkauften Forum am Hofgarten auf die Bühne gezaubert hat. „Struwweln oder: Sind wir nicht alle pädagogischer Lebertran“ war höchst amüsant und regte zugleich zum Nachdenken an – über die uralte Frage, wie Pädagogik und Erziehung zu gehen hätten.
Als Vorlage des Stückes von Siegfried Steiger diente Heinrich Hoffmanns weltberühmtes Kinderbuch „Der Struwwelpeter“. Der Arzt und Psychiater aus Frankfurt hatte das Werk 1844 für seinen vierjährigen Sohn geschrieben und gezeichnet, weil er kein passendes Kinderbuch als Weihnachtsgeschenk für seinen Sprössling gefunden hatte. Seitdem treibt das Buch die Gemüter um. Wollte Hoffmann mit seinen Geschichten die Kinder vor den vielfältigen Gefahren des Lebens schützen? Oder waren die oft drakonischen Strafen für das (angebliche) Fehlverhalten der Kinder im „Struwwelpeter“ nur der Ausdruck hilfloser Rohrstockpädagogik?
Das Experimentelle Theater geht diesen Fragen in eineinhalb Stunden auf vergnügliche, nicht belehrende Art und Weise nach. Es ist vielmehr ein Stück „zwischen Lächeln und Lachen“, wie Siegfried Steiger, Gründer und Spiritus Rector des Theaters, in seiner Begrüßung erklärte. Die Tendenz wird freilich schon in der ersten Szene klar: Kinder sind so vielfältig wie die ungezählten Blätter am Kinderbaum. Wie und warum sie also über einen Kamm scheren?
Die Aufführung beeindruckt in vielfältiger Weise. Kreativ und mit viel gestalterischer Phantasie werden Hoffmanns Geschichten in Szene gesetzt, verwoben sind sie mit technisch perfekten Videos, bunten Lichteffekten und raffiniertem Schattenspiel. Höchst köstlich ist ein Video mit einem kleinen Mädchen – im Tonfall der gestrengen Gouvernante rezitiert sie die Geschichte vom Daumenlutscher.
Das 33-köpfige Ensemble stellt immer wieder überraschende Bezüge zum Heute her. Aus Hans Guck-in-die-Luft wird die Head-Down-Generation, die ständig nach unten aufs Handy starrt. Auch sie könnte ins Wasser fallen – und würde dabei, wie in einem Begleitvideo zu sehen, noch unter Wasser gefilmt. Es ist der Voyeurismus dieser Tage.
Dass Hoffmann kein Reaktionär war, belegt seine „Geschichte von den schwarzen Buben“. Sie werden bestraft, weil sie den kleinen Mohren verspotten und verachten. Mehr muss man über Rassismus kaum sagen. Tragisch endet Pauline, die mit dem Streichholz zündelt. Die kriminellen Zündler unserer Zeit schrecken nicht davor zurück, selbst Kinder zu verletzen oder zu töten. Am Ende entschwebt der „Fliegende Robert“ mit seinem Schirm gen Himmel. Wohin genau? Man weiß es nicht. Vielleicht ja in eine Zukunft, die so vielfältig und frei ist wie die bunten Luftballons, die an die Decke des Forums schweben.
Mit dieser bei aller Leichtigkeit aufwendigen Inszenierung hat das Experimentelle Theater drei Jubiläen gefeiert: Das 30-jährige Bestehen, 25 Jahre Förderverein und 20 Jahre Kooperation mit dem Maria-Ward-Gymnasium. Sich und den Zuschauern hat das Ensemble damit das schönste Geschenk gemacht, wie der lange Beifall und die vielen Bravo-Rufe bewiesen.
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