
Theater in Günzburg: „Noch ein Bier für die Krücke“

Mit Lyrik als sprachspielerischem Musik- und Kunsterlebnis schickt das Experimentelle Theater Günzburg das Publikum in voralpine Gedankenschluchten.
Eine der großen Fragen substanzieller Bedeutung: Wann wird der Mensch zum Dichter? Die schnellstmögliche Variante: Das Handy klingelt, der Arzt kündet von lebensbedrohenden Krebszellen in Aktion. Ergo: Sechs Wochen Untersuchung, Therapie, Klinikaufenthalt im Berchtesgadener Land (BGL) – ratz-fatz, und schon hat man die Schwelle zur Dichtkunst überschritten. Siegfried Steiger jedenfalls hatte es, neun Jahre ist es her. Kleine Abweichung: Nach dem Ausschluss von Krebs wurde die Aufenthaltsdauer auf 22 Tage gekürzt, schließlich hat man als Lehrer und Spiritus Rector des Experimentellen Theaters Günzburg noch Höheres im Sinn. Jedoch, an jedem der Aufenthaltstage floß ihm ein Werk poetischer-lyrischer Gestaltungsform aus der Feder.
Erschienen ist es dann, ergänzt durch die spannungsvolle Wechselbeziehung von Sohn Jakobs illustrativen Metaphern hochvitaler Bildkraft, als schlichtes 44-Seitenbändchen und wird schließlich, theaterkonform, als szenische Interpretation konzipiert und, „22 Tage BGL“ betitelt, in der Aula des Maria-Ward-Gymnasiums als Günzburger Erstaufführung vorgestellt. Darstellerisch fein lasiert und emotional bissfest umgesetzt von den Ensemblemitgliedern Ester Becker, Alexa Eberle, Alexander Frank, Emilia Gaffrey, Laura Geis und Pauline Riegel. Musikalisch, auf den Flügeln des Gesangs schwebend und den poetischen Ort in klangästhetische Deutung hüllend, mit Max Besold (Marimbafon), Johannes Jäger (Schlagzeug), Markus Lenz (Gitarre) und Yasmin Söll (Gesang).
Das Publikum ist ganz nah dran
Bescheiden an die Wand drapiert und leider nur sparsam auf Großleinwand gebeamt, Jakob Steigers poetische Kunstkommentare. Das Publikum, inmitten eines durch Lyrik geschaffenen Hör- und Sehraums, kann dem Geschehen aus nächster Nähe ins schöpferische Auge blicken. Im Hintergrund his Master’s Voice. Siegfried Steiger als Dichter-Schauspieler-Regisseur, gibt jeweils Gedichttitel samt vorangestellter Kurzzitate seiner Lieblingsdichter kund: Bachmann, Borges, Kafka, Lorca et cetera, et cetera. Unsichtbar schwebt er über dem lyrischen Ich seiner 22-Tage-Schöpfungen. Ein kaum auszukostender Fundus, randvoll mit intellektuell wie gefühlvoll aufpolierter Lyrik der Seelenwahrnehmung, der Gedanken, Ereignisse und Erfahrungen in allen erlebten, erlittenen und erzählten Ausformungen und Varianten therapeutischer Perspektiven. Und wo geht’s lang in diesen sprachoptisch inszenierten Steiger-Szenarien, die Dichten und Denken als eines sehen?
Die Sätze und Worte packen, sie vielschichtig durch eine hintersinnige Bedeutungsmühle drehen und zum äußeren Ereignis mit der seelischen Welt verdichten. „Man sendet SOS-Rufe nach draußen“, wie dazumal die Bewohner Masadas in der „Belagerung“. Bisweilen durchaus nötig, in Zeiten stillstehenden Interpretationsvermögens. Nein, an einem Ort reinen Wohlbefindens sind wir nicht. Wäre auch ganz und gar nicht im Sinne des Dichters. Dafür hat jegliche Interpretation aber auch ihre individuelle Seite, die ein Schlüsseziehen, das nicht unbedingt im Sinne des Erfinders ist, auch erlaubt. Darf man im „Windbruch“ – dem einzigen Reimgedicht im ansonsten reimlosen Sortiment – eine leicht ironisch-spöttische „Vergoethung“ des deutschen Dichterfürsten erschmunzeln?
Es prägt radikale Kräfte
„Über keinem der Gipfel ist Ruh … bald zersplitterst auch du.“ Ins tiefste Innere der Poesie vordringend sicher das „Geschenk“ mit dem Ludwig-Hirsch-Zitat „Schick Dich doch selber Deiner Freundin als a Packerl!“ Beileibe kein Sehnsuchts- und Erinnerungsort der „Obersalzberg“, die Zeilen von „Evas Bikini-Idylle, weißhäutig zwischen Teegebäck und Vernichtungsmonologen“ durchweht keine Emphase, sondern prägt radikale Kälte.
Im Gegenschnitt zugefügt, die Aura sanglich sanftgeweichter Legatobögen „Davon geht die Welt nicht unter“, mit dem prekären Duft unverstellter Wirklichkeit, und die atmet, wie im „Kulturprogramm“ angeboten, „Seelennahrung, die vergiftet oder entschlackt.“ Der Erwartungshaltung Steigerschen Poesieerfülltheit geben die „Illusion“-Verse Sinn und Gestalt: „Den Dichter lässt er alle bisherigen Worte fressen und neue erfinden.“ Nein, nicht der Wörter alle, die der bodenständigen Art halten sich wacker. „Im Kammerer-Bräu“, wo „die Musik wummert“, wo versalzene Steaks auf der Karte stehen und mit urbairischem „Stimmengeswinge und Apnoe-Gestotter“ auch hartgesottene Gemütlichkeit serviert wird: „Noch ein Bier für die Krücke.“ Gewöhnlich ist des Dichters Blick auf das Tagesgeschehen und die Welt gar nicht in Ordnung, doch diese „Verstörung“ ficht ihn nicht an, denn „Das rettende Stichwort trottet apathisch an der Leine neben mir her.“
Kaufen Das Buch „22 Tage BGL – Seelenwanderungen im Berchtesgadener Land“. Gedichte von Siegfried Steiger, illustriert von Jakob Steiger. Zu beziehen ist es über das Experimentelle Theater Günzburg per E-Mail an die Adresse theater@etgz.de zum Preis von 15 Euro.
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