
Von Liebesliedern und Freiheitskämpfern

In Krumbach engagieren sie sich für den Verbleib von Gloria Yosores und ihres Sohnes. Viele kennen die alevitische Bundestagsabgeordnete Ekin Deligöz. Doch die alevitische Kultur ist für viele in der Region nach wie vor ein Rätsel
Eine Stimme, die Bilder von ostanatolischen Berglandschaften in die Köpfe der Zuhörer malt. Getragen vom dezenten Klang einer orientalischen Laute vermittelt der Gesang von Elif Polat eine unbestimmte Sehnsucht. Ein Hauch von Traurigkeit schwingt dabei ebenso mit wie die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Elif ist Alevitin – wie mehr als 200 andere Krumbacher.
Im Fall Yosores sang und spielte Elif zur zweiten Mahnwache auf dem Marktplatz und bei der „Krumbach zeigt Gesicht-Kundgebung. Sie trug damit zwei wichtige Aspekte ihrer Religion in die Öffentlichkeit: die tiefe Verbindung zur Musik und soziales Engagement.
Aleviten findet man sehr häufig in einem linksliberal-humanistischen Umfeld. Sie machen sich stark für Frieden, Umweltschutz, Meinungsfreiheit und Frauenrechte. Alevitische Frauen sind nicht verpflichtet, ein Kopftuch zu tragen. Die Scharia hat für sie keine Relevanz, Alkohol ist erlaubt und Mann und Frau sind gleichgestellt. Woher kommt diese ungewöhnliche Religion?
Sivas/Türkei, 2. Juli 1993. Überall Rauch. 20000 Menschen umschließen ein Gebäude. Brandsätze legen den Holzbau in Flammen. Videos zeigen Polizisten, die der aufgebrachten Menge helfen. Die Menschenmasse behindert die Feuerwehr. Das Gebäude war das Madimak-Hotel. 37 Menschen fanden in den Flammen den Tod. Dichter, Musiker, ein Karikaturist. Fast alle Opfer waren Aleviten.
Von der türkischen Regierung bis heute als „Sivas Ereignis“ euphemisiert, helfen die Ereignisse um diesen Brandanschlag dabei, die Aleviten zu verstehen. Schon im Osmanischen Reich wurden sie als Ketzer verfolgt. Atatürks Reformen verbesserten die Situation der Aleviten vordergründig. Die strikte Säkularisierung ließ jedoch nur den sunnitischen Islam als anerkannte Religion zu und schadete so dem Volksislam und damit auch den Aleviten. Nach dem Militärputsch von 1971 verschlechterte sich die Lage weiter. Die Nachwirkungen davon lassen sich bis nach Krumbach verfolgen:
Der heute 62-jährige Hüseyin Coban kam hierher, nachdem die Polizei seine Wohnung im anatolischen Erzincan durchsucht hatte. Damals noch Vorstand der türkischen IG Keramik, hatte er einen Beitrag für eine linksliberale Zeitschrift verfasst. Seine besorgte Mutter schickte ihn daraufhin nach Deutschland.
Einsatz für Frieden und Menschenrechte
Flucht und Unterdrückung haben dazu beigetragen, dass Aleviten sich immer wieder für Frieden und Menschenrechte einsetzen. Aber auch ihre ureigenen Traditionen bilden die Basis. Ein Priesteramt gibt es nicht, dafür den sogenannten Dede (wörtlich: Großvater). Er soll durch Geduld, Ehrlichkeit und Gott-Ergebenheit ein Vorbild sein. Er lehrt seine Schüler, die ihm im Gegenzug mit Respekt begegnen. Der Dede wiederum wächst an der ständigen Auffrischung und Aktualisierung seiner Kenntnisse. Ein Kreislauf, der sich auch im Semah widerspiegelt: Leichtfüßig drehen sich Männer und Frauen gemeinsam um die eigene Achse, während sie einen großen Kreis abschreiten. Auf diese Weise soll der Lauf der Gestirne dargestellt werden. Der heilige Tanz ist ein zentrales Element des Glaubens. Die Bewegungen erinnern stark an die Tänze der Derwische. Tatsächlich gibt es Parallelen zur islamischen Mystik: das Wertesystem der vier Pforten, die vierzig Stufen und das Konzept vom vollkommenen Menschen, um nur einige Beispiele zu nennen. Ob sie aber Muslime sind, ist eine Frage, die einige Aleviten nicht mit einem eindeutigen „ja“ beantworten. Ihre eigenen Gottesdienste finden jedenfalls nicht in einer Moschee statt. In Krumbach gibt es diese sogenannten Cem-Zeremonien in der Regel ein- bis zweimal jährlich. Die Gemeinde organisiert auch entsprechende Veranstaltungen zusammen mit den Günzburger Aleviten oder nimmt an Cem-Zeremonien in der näheren Umgebung teil.
Der fremdartig schöne Klang der Saz ist in einem alevitischen Dernek (Vereinsheim) keine Seltenheit. Der zehnjährige Arda streicht schon sehr routiniert über die vier Saiten der Langhalslaute. Der junge Krumbacher ist Mitglied der Kinder- und Jugendgruppe der alevitischen Gemeinde. Vielleicht wird aus ihm ja eines Tages ein Asik?
Ein Asik (= Der Liebende) ist ein Geschichtenerzähler und Volksliedsänger. Bereits in vorislamischer Zeit trugen fahrende Sänger Volkslieder mit der Laute vor. Oft handeln die Stücke von der Liebe. Häufig auch von sozialen Problemen. Asiks wie Yunus Emre verleihen ihren Liedern auch eine spirituelle Dimension. Kein Wunder, dass die Musik auch im Cem präsent ist. Die Freude vieler Aleviten an Lyrik und Liedern lässt sich also mit ihrer Religion erklären.
Sängerwettstreit im irakischen Kerbela
Im irakischen Kerbala treffen sich im islamischen Monat Muharram regelmäßig alevitische Asiks zu einem Sängerwettstreit, in dessen Verlauf sie sich gegenseitig mit improvisierten Texten ansingen. Ein Modus, der an moderne Poetry- und Songslams erinnert.
Aleviten werden oft als sehr gut integriert angesehen. In der Tat beteiligen sich viele Aleviten aktiv am öffentlichen Leben. Auch die alevitische Gemeinde in Krumbach versteckt sich nicht. Im Heimatmuseum fand unter Beteiligung der alevitischen Gemeinde das Konzert der Hamburger Sängerin Derya Yildirim statt. Vor Kurzem wurde eine Ausstellung zum Thema Gezi Park im Heimatmuseum eröffnet. Und auch im Fall Yosores haben viele Aleviten an den Veranstaltungen teilgenommen. Wie Elif Polat, die mit ihrer Stimme ihren Glauben zelebriert: „Am Ende geht es nicht um Religion, sondern um den einzelnen Menschen.“
Die Diskussion ist geschlossen.