Rastlos bis zum bitteren Ende
Rosa Luxemburg erreichte ihr politisches Ziel nicht. Warum, das erklärt die sehr gute Biografie von Ernst Piper
Den 1. Mai 1919 hat Rosa Luxemburg nicht mehr erlebt. Die marxistische Denkerin, Revolutionärin und KPD-Gründerin war zu diesem Zeitpunkt bereits seit dreieinhalb Monaten tot. Nach dem gescheiterten Januar-Aufstand hatten ihre Mörder die 47-Jährige am 15. Januar an der Lichtensteinbrücke in den Berliner Landwehrkanal geworfen. Ihr Leichnam wurde erst am 31. Mai in der Nähe des Bahnhof Zoo von einem Schleusenwärter aus dem Wasser gezogen. Dass es zu einer sozialistischen Revolution erst einmal nicht reichen würde – so nah sie schien –, war ihr bewusst gewesen, ihr und den Spartakisten. Dass die vor dem Mord von ihr noch mitmobilisierten Massen die Reichsregierung mit den verhassten Sozialdemokraten nicht stürzen würden, hatte sie erwartet. Es war gefährlich für sie in Berlin. Geblieben war sie dennoch. Die Luxemburg war keine, die davonlief.
Wie sie zu einer der einflussreichsten Kämpferinnen der europäischen Arbeiterbewegung, zur so streitbaren wie produktiven Publizistin und schließlich zur leidenschaftlichen Gegnerin der SPD wurde, hat zuletzt Ernst Piper in der über 800 Seiten starken Biografie „Rosa Luxemburg – Ein Leben“ umfassend, lesenswert und – bei Porträts ja wichtig – mit professioneller Distanz zum tief erforschten Sujet beschrieben. Dass der in Potsdam lehrende Historiker sie und „ihre Schwestern im Geiste“ in dem berühmten Fragebogen des FAZ-Magazins mal als seine „Heldin der Geschichte“ erklärt hat, verschweigt er dabei nicht. Seinem Werk tut das keinen Schaden.
Sich nicht von der 1871 im damals russischen Teil Polens geborenen Frau faszinieren zu lassen, bleibt auch eine Herausforderung. Der Weg führte Rozalia Luxenburg (Geburtsname) nach dem Abitur aus einem jüdischen Elternhaus nach Zürich. Schon früh sozialistisch-oppositionell umtriebig, war ihr vor dem Studienbeginn in der Schweiz von der Schulleitung daheim die ihr eigentlich zustehende Goldmedaille für das beste Zeugnis verweigert worden. Das nur 1,46 Meter große Persönchen war im Kopf alles andere als klein. Energie hatte sie ohnehin – und ein herausragendes rhetorisches Talent.
In Zürich gelangt sie schnell in die Szene der russischen Emigranten, die 1917 im Zarenreich mit Lenin an der Spitze Oktoberrevolution machen. Unter ihnen ist auch Leo Jogiches. Der Berufsrevolutionär bleibt nicht der einzige Mann in ihrem kurzen Leben, aber er treibt sie im Klassenkampf wie kaum jemand sonst. Luxemburg promoviert mit einer nationalökonomischen Arbeit und geht nach Berlin. Wo sie zur großen Nummer in der SPD wird.
Wir folgen Piper dann mit Luxemburg zu all den Kongressen und Konferenzen der sieben verschiedenen (linken) Parteien, denen sie insgesamt angehörte, durch all die Debatten – und verstehen, warum sie sich am Ende von den Sozialdemokraten distanzierte und schließlich trennte. Diese Debattenknäuel können marxistisch eher Halbbeschlagenen lang werden. Aber um Rosa Luxemburgs geistiger Entwicklung als Biograf gerecht zu werden, muss man da (auch als Leser) durchhalten.
Dass die SPD bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges diesem imperialistischen Wahnsinn die Kriegskredite bewilligte, hat Luxemburg als Verrat an ihren Überzeugungen empfunden. Und bei Kriegsende reichte ihr auch die Abdankung Wilhelms II. und die Wandlung des Reiches von der Monarchie zur parlamentarischen Demokratie nicht. Ihr zu verfolgendes Ziel lautete: Diktatur des Proletariats.
Was würde die von den Exegeten oft falsch vereinnahmte und von Lenin schärfstens kritisierte Luxemburg wohl 100 Jahre später am 1. Mai sagen? Wie würde die überzeugte Anti-Nationalistin die Lage der EU analysieren? Die Lage der europäischen Arbeiter in Zeiten der Digitalisierung? Den Zustand der europäischen Sozialdemokratie? Wäre sie in Europa politisch daheim?
Einer ihrer schönsten Sätze lautet: „Ich fühle mich in der ganzen Welt zu Hause, wo es Wolken und Vögel und Menschentränen gibt.“
Ernst Piper: Rosa Luxemburg – Ein Leben. Karl Blessing Verlag, 832 Seiten, 32 Euro
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