Dostojewski und "der beste Roman der Welt": Erkundung eines geliebten Autors
Nicht nur Reich-Ranicki verehrte eines der Werke des Russen als das größte. Warum wirkt Fjodor Dostojewski bis heute, 200 Jahre nach seiner Geburt, so einzigartig?
Die Liebe ist grenzenlos, existenziell – und womöglich auch fatal.
Elke Heidenreich zu Dostojewski
Als Elke Heidenreich vor zwei Jahren zu einem Literaturabend in der Augsburger Stadtbücherei zu Gast war, sprudelte sie auch nach der dreistündigen Veranstaltung in trauter Runde mit einem Glas Weißwein in der Hand noch vor Hingabe und Begeisterung – geriet aber erst völlig außer sich, als ein Zauberwort fiel: Dostojewski. Da gab es kein Halten mehr für Deutschlands populärste Kritikerin. Die Breite und die Tiefe, in der dieser Menschsein ergründet habe, sei ohne Beispiel, bis heute unerreicht. Es war tatsächlich Liebe, die da sprach, nicht die reflektierte Wertschätzung einer Analytikerin, sondern die Leidenschaft einer immer wieder und unverbrüchlich für dieses Werk entflammten Leserin.
Dabei schien das Leben dieses Autors vorbei, längst bevor er seine großen Romane geschrieben, geschweige denn es zu literarischem Ruhm gebrachte hatte. Es war der 22. Dezember 1849, der als Sohn eines Arztes am 11. November 1821 in Moskau geborene und zum Militäringenieur ausgebildete Fjodor Michailowitsch Dostojewski war gerade 28 geworden, als er plötzlich seinem Ende entgegensah. Wegen sozialistisch rebellischer Umtriebe an der Seite seiner Freunde eingekerkert, an diesem Morgen früh geweckt, in den Hof geführt und bei Verlesung der Todesurteile in Dreiergruppen zur Exekution aufgestellt. Doch dann, im letzten Moment: die Begnadigung. Der Zar hatte zur letzten Mahnung an dieses Jungvolk aus den Salons ein Lehrstück der Macht inszenieren lassen. Dostojewski hat die Szene später in einem Großwerk verewigt, dem um Fürst Myschkin: „Der Idiot“. Aber zuvor galt es noch, die langjährige Verbannung nach Sibirien, ein Schreibverbot zu überstehen, im Ringen mit einer Macht, die ihm früh die Willkür von Recht und Unrecht vor Augen geführt hatte.
Marcel Reich-Ranicki zu Dostojewski
Als Marcel Reich-Ranicki wenige Jahre vor seinem Tod von einem Leser seiner FAZ gefragt wurde, was denn das Besondere für ihn an Dostojewski sei, antwortete der Literaturpapst: Ich habe – es war in meiner Schulzeit – mit Dostojewskis Roman ‚Die Brüder Karamasow‘ begonnen … Im Vordergrund der Handlung stehen die drei Söhne des Ermordeten, drei sehr unterschiedliche und faszinierende Figuren. Alle drei sind sie schuldig – und unschuldig zugleich. Als ich damals, meine Schulaufgaben und meine Freunde vernachlässigend, dieses Buch las, glaubte ich, es sei der beste Roman der Welt. Unter uns: Ich glaube es immer noch.“ Wohl nicht in vielem, aber hier war er mit Sigmund Freud einig, der gesagt hatte: „,Die Brüder Karamasow‘ sind der großartigste Roman, der je geschrieben wurde.“
Dostojewski, der große Psychologe der Weltliteratur: Dazu braucht man noch nicht mal die mitunter über tausendseitigen Monumentalwerke – es genügen die wohl weit häufiger gelesenen „Der Spieler“ und „Schuld und Sühne“ (heute: „Verbrechen und Strafe“, siehe unten zu Übersetzungen). Der selbst jahrelang spielsüchtige Autor, der außerdem Epileptiker war, zeigt bereits in diesen vergleichsweise dünnen Bänden, wie die dunklen Neigungen des Menschen all sein hehres Denken, seine Vernunftfähigkeit unterminieren können. Unfassbar, dass er den „Spieler“ aus Geldnot in einem einzigen Zug diktiert haben soll; fulminant die „Schuld“-Szenen mit Raskolnikow, wie er als Mörder einer Pfandleiherin noch am Tatort die Entdeckung fürchtet und sich im späteren Verhör auf ein höheres moralisches Recht einzelner Ausnahmeindividuen beruft.
Aber weder dieses, noch das gleich darauf verfasste „Der Idiot“ brachten ihm den Durchbruch. Mühsam hatte sich Dostojewski zurück in die Gesellschaft gekämpft, war samt seinem Bruder mit gleich zwei Literaturmagazinen in eigener Sache bankrott gegangen, hatte sich zum Nationalkonservativen gewandelt, dem Russentum gehuldigt und die drei Säulen der Gesellschaft gepriesen: autoritäre Herrschaft, orthodoxer Glaube und Volksnähe. Aber sein „Idiot“ blieb nahezu unbemerkt, weil sein großer Konkurrent Tolstoi zur gleichen Zeit „Krieg und Frieden“ herausgebracht hat.
Michael Köhlmeier zu Dostojewski
Als in Michael Köhlmeiers aktuellem Roman „Matou“ der titelgebende Kater erzählt, wie er während seiner sieben Leben den Menschen zu verstehen versucht, erinnert er sich: „…als ich in New York lebte, hat mir mein Herr sämtliche Werke von Dostojewski zu lesen gegeben; er meinte, wenn ich schon unbedingt die Gattung Mensch kennenlernen wolle, solle ich mich an den da halten.“ Ob, wie hier behauptet, das Herrchen Andy Warhol Fjodor-entflammt war wie übrigens auch Goebbels, Camus, Sartre, Einstein, Thomas Mann (der "Schuld und Sühne" für den größten Krimi aller Zeiten hielt)… – und Putins nationalistisches Russland? Köhlmeier jedenfalls sagte unserer Redaktion: „Dostojewski ist ein Sonderfall. Die Figuren reden und reden und reden. Ich brülle in das Buch hinein: Komm endlich auf den Punkt! Und plötzlich geschieht etwas Sonderbares, etwas, was man mit keinem anderen Roman vergleichen kann, was nur Dostojewski liefert: Er zwingt dich in die Szene. Du schaust nicht mehr von außen zu, du hörst nicht mehr von außen zu. Du bist mitten unter ihnen. Du bist einer, der mit ihnen am Tisch sitzt. Dostojewski schafft jede Distanz ab. Du musst noch einmal von vorne anfangen. Zu lesen, zu denken, zu leben.“
Die letzten zehn Jahre vor seinem Tod am 9. Februar 1881 in Sankt Petersburg immerhin lebte Dostojewski endlich finanziell abgesichert und in literarischem Ruhm. Auch seine späten Erzählungen wie „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ und „Aufzeichnungen aus dem Totenhaus“ aber haben die unmittelbaren äußeren Nöte des Menschen nicht vergessen – wie sie auch dessen innerlich zersetzende Natur kennen („Der Traum eines lächerlichen Menschen“). Und selbst die großen heiligen Helden wie Aljoscha Karamasow oder „Der Idiot“ Myschkin scheitern in dieser allzu menschlichen Welt mit ihrer absoluten Aufrichtigkeit und selbstlosen Liebe nicht nur an der Unerlösbarkeit jener Welt und des Menschen darin – sie bleiben beim zweifach verheirateten und selbst mit einem gespaltenen Verhältnis zu Frauen lebenden Autor auch selbst Quell des Unglücks gerade für die, die sie lieben.
Michael Nast und die "Generation Beziehungsunfähig" zu Dostojewski
Als Michael Nast, der zum internationalen Bestseller gewordene Liebesproblemerklärer in diesem Frühjahr seine abschließende Problemanalyse vorlegte, „Generation Beziehungsunfähig – Die Lösungen“, fand sich darin die Passage: „Ich habe lange Zeit angenommen, dass Leid dazugehören muss … Ich dachte, dass es meinen Gefühlen Würde gab. Ich verstand Leid als Ausdruck der Größe meiner Gefühle … Ich habe mich oft gefragt, worin die Gründe dafür liegen. Einer dieser Gründe könnte sein, dass ich die großen Romane von Dostojewski zu früh gelesen habe.“ Die Dramen, das Unglück, das Unvollendetbleiben …: „So gesehen waren meine Liebesbeziehungen die Wiederauflagen dieser Liebesgeschichte. Wir waren zu Figuren eines Dostojewski-Romans geworden …“
Ist dieser Autor, ist die Sehnsucht, die er erzeugt, also größer als das Leben und damit fatal zu dessen tatsächlicher Bewältigung? Weil gerade die Intensität des Unglücks überwältigt? Dostojewski jedenfalls sagte nicht nur, er zeigte auch: „Der Weg zwischen Himmel und Hölle geht durch die Seele jedes Einzelnen.“ Das steht offenbar dem Tinder-Geschädigten Nast beim nun ersehnten, bürgerlich verlässlichen Glück entgegen; diese Tiefe sei für jenen als Mittvierziger heute nur noch als „dramaturgisches Mittel“ zu verstehen, dem er aufgesessen sei. Was für Missverständnis der Literatur und eines ihrer Größten! Die ausgeweitete Pubertät im Wohlstandskonsum des 21. Jahrhunderts prüft die Wahrheit des Romans an der Nützlichkeit für die Selfie-Projektion. Reich-Ranicki empfahl auf die Frage, was jemand lesen solle, der nur noch Zeit für ein letztes Buch habe: „Dostojewski: ‚Die Brüder Karamasow‘. Oder Tolstoi: ‚Krieg und Frieden‘.“ Es geht hier zeitlos in die Untiefen des Daseins, um die Frage des Menschseins an sich. Dieses Lesen, das ist Leben.
Neue Bücher von und zu Dostojewski:
Biografisches Die aktuellste Biografie – es war zudem die erste seit 25 Jahren – stammt aus dem Jahr 2018 und vom Autor Andreas Guski: „Dostojewski“ (C. H. Beck, 460 S., 28 Euro). Der Niederländer Jan Brokken hat die Exil-Zeit des Russen in einem schönen Roman verarbeitet; „Sibirische Sommer mit Dostojewski“ (Übs. Helga van Beuningen, Kiepenheuer & Witsch, 432 S., 22 Euro). Mit „Dostojewski und die Liebe“ (Tredition, 420 S., 15,99 Euro) hat Klaus Trost eine aufschlussreiche biografische Analyse vorgelegt. Von Ursula Keller und Natalja Sharandak erscheint im Januar 2022 „Dostojewski und die Frauen“ (Insel, 380 S., 24 Euro).
Übersetzungen Aus der Vielzahl der Übertragungen ins Deutsche ragt sicher die von Swetlana Geier heraus: Die inzwischen gestorbene Autorin hat die großen Romane Dostojewskis zu Beginn des neuen Jahrtausends höchstgelobt in eine modern klare Sprache gebracht – und Titel korrigiert: „Schuld und Sühne“ heißt „Verbrechen und Strafe“, „Der Jüngling“ heißt „Ein grüner Junge“.
Neuveröffentlichungen In Erstübersetzung (Alexander Nitzberg) gibt es nun die Urfassung von Dostojewskis Roman „Der Doppelgänger“ (Galiani, 336 S., 24 Euro). Drei heitere Erzählungen (neben der titelgebenden auch „Die Sanftmütige“ und „Roman in neun Briefen“ versammelt der neue Dostojewski Band „Ein kleiner Held“ (Peguin, 208 S., 8 Euro). Eines Klassikers hat sich Ursula Keller neu angenommen und im Titel das Kellerloch mit dem Untergrund ersetzt: „Aufzeichnungen aus dem Untergrund“ (Manesse, 320 S., 25 Euro).
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