Marina Abramovic erhob Selbstgeißelung zur Kunst
Marina Abramovic, die große Performance-Künstlerin, hat Geschichte geschrieben. Sie hat ihre Kunstgattung salonfähig gemacht.
Allem, dem sich der Normalmensch – durchaus mit Grund – psychisch oder körperlich nicht aussetzen will, setzte sie sich – durchaus mit Grund – aus: Marina Abramovic, die berühmte Performance-Künstlerin. Sie forderte ihr Publikum auf, sie als Objekt zu betrachten – und mit diesem sowie 72 bereitgehaltenen Gegenständen – darunter Schere, geladener Revolver, Nägel, Metallrohr – zu tun und zu lassen, was es mag (1974). Die Performance endete nicht ohne Verletzungen, ein Teil des Publikums musste sie auch, um Schlimmeres zu verhüten, schützen.
Sie nahm in einer ihrer extremsten Aktionen ein Kilo Honig und einen Liter Wein zu sich, um hernach sich den Bauch mit einer Rasierklinge zu ritzen, mit einer Peitsche zu geißeln und sich auf einem Eisblockkreuz unter einen Heizstrahler zu legen (1975 unter dem Titel „Thomas Lips“, später mehrfach wiederholt).
In New York unterzog sich Abramovic einem dreimonatigen Exerzitium
Auch lief sie 2500 Kilometer auf der Chinesischen Mauer ab, um sich von dem ihr auf gleicher Länge entgegenkommenden Künstler-Lebenspartner Ulay zu trennen (1988). Auf der Biennale Venedig 1997 wiederum säuberte sie – zu gesungenen Totenliedern ihrer serbischen Heimat – frische Rinderknochen (und gewann den Goldenen Löwen); 2010 lautete ein dreimonatiges psychisches Exerzitium im New Yorker Museum of Modern Art „The Artist is present“ – was konkret bedeutete: langer, tiefer Augenkontakt mit über 1600, natürlich in aller Regel unbekannten Besuchern/Prozessteilnehmern.
Derlei hält nicht jeder aus, nur leidensfähige, starke Persönlichkeiten. Marina Abramovic ist eine solche, heute wird sie – bei erklärtermaßen guter Gesamtverfassung – 75 Jahre alt. Dabei fragt sich mancher, woher die Motivation zu ihrer Passionskunst rührt. Aus strenger Erziehung durch die Großmutter? Aus orthodox-christlicher Tradition? Aus einem Hang zum Heldischen beziehungsweise Selbstquälerischen? Aus philosophischer Überzeugung im Sinne von: Wenn in einer säkularisierten Welt die vollkommene Freiheit ohne Pflicht sowie jegliche Annehmlichkeit ohne Rücksicht als die erstrebenswertesten Ziele erscheinen, dann versprechen nur noch Selbstbegrenzung, Verzicht und Geißelung tatsächlich Befriedigung. Künstlerisch jedenfalls hat Marina Abramovic ihre existenziellen Performances mit dem Glauben begründet, dass Kunst nur in zerstörerischen und des Wiederaufbaus bedürftigen Gesellschaften getan werden könne.
Ihr jüngstes Projekt fand in der Bayerischen Staatsoper statt
„Ich bin verantwortlich dafür, dass Performance-Kunst zum Mainstream geworden ist, denn vorher gab es auf diesem Gebiet niemanden“, erklärte die in Belgrad geborene und ausgebildete Künstlerin kürzlich dem Guardian – obwohl Fluxus-Happenings und Wiener Aktionskunst in den 1960er Jahren durchaus Kunstgeschichte schrieben und Abramovic auch Teilnehmerin eines Nitsch-Mysterienspiels war. Womit sie aber recht hat, ist: „Über Performance-Kunst wurde sich lustig gemacht, das wurde nicht als Kunst angesehen. Mein ganzes Leben lang, 50 Jahre meiner Karriere hat es gedauert – aber jetzt ist Performance-Kunst Teil von Museen, Kultur und Sammlungen.“
In die Ansicht eines ihrer jüngsten Projekte, „7 Deaths of Maria Callas“, kamen Besucher der Bayerischen Staatsoper 2020. Abramovic inszenierte und spielte leibhaftig (und filmisch an der Seite des US-Schauspielers Willem Dafoe) den vielfachen Opern-Tod der Callas und deren wirklichen Tod in Paris – vergleichbar mit jener Vorstellung des eigenen Abramovic-Todes, die sie zuvor schon auf der Opernbühne von Madrid in Szene gesetzt hatte.
Wenn es denn irgendwann tatsächlich ans Sterben der mehrfachen Documenta-Teilnehmerin gehen wird, hat sie verfügt: drei Beerdigungen an drei Orten, ohne dass sich die Trauernden jeweils sicher sein können, der tatsächlichen Beisetzung Abramovics beizuwohnen.
Bis dahin möge es noch dauern.
Die Diskussion ist geschlossen.